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OTTO WEININGER

SEIN WERK

UND SEINE PERSÖNLICHKEIT

VON

EMIL LUCKA

 

SCHUSTER & LOEFFLER IN BERLIN

 

 

 

 

 

 

 

OTTO WEININGER

 

 

 

 

 

 

 

 

BÜCHER VON EMIL LUCKA

 

Im Verlag von Schuster & Loeffler, Berlin:

 

Die drei Stufen der Erotik. 15.  Auflage

Grenzen der Seele. 9. Auflage

Die Phantasie.  Eine psychologische Untersuchung

Tod und Leben.  Roman

Eine Jungfrau.  Roman.  6. Auflage

Adrian und Erika.   Roman

Das Unwiderrufliche.  Vier Zwiegespräche

Winland.  Erzählungen.  6. Auflage

Buch der Liebe.   Verse

Das brennende Jahr.  44 Anekdoten

Heiligenrast.  Ein Roman aus alter Zeit.  10. Auflage

Der Weltkreis.   Ein Novellenbuch.  4. Auflage

Ehegeschichten.   Novellen.  4. Auflage

Die Verzauberten.  Ein Schauspiel

 

Im Verlag von S. Fischer, Berlin:

Isolde Weißhand.  Ein Roman aus alter Zeit. 52. Tausend

 

Im Verlag von Ullstein & Co., Berlin:

Das Brausen der Berge.  Roman

 

Im Verlag von Georg Müller, München:

Die Mutter.  Schauspiel

 

Im Verlag von Frisch & Co., Wien:

Thule.  Eine Sommerfahrt.  Prachtausgabe.

 

 

 

 

OTTO WEININGER

 

SEIN WERK

UND SEINE PERSÖNLICHKEIT

 

VON

 

EMIL LUCKA

 

 

3.bis 6. Auflage

 

 

SCHUSTER & LOEFFLER IN BERLIN

1921

 

 

 

 

 

 

 

A l l e  R e c h t e  v o r b e h a l t e n

 

 

2738. Berliner Buch- und Kunstdruckerei, G. m. b. H., Berlin W35 - Zossen

 

 

 

 

 

 

 

INHALT

 

Vorwort zur neuen Ausgabe

 

I.Vorbemerkungen

 

II. Die Probleme Weiningers aus dem Gebiete der Erfahrungswissenschaften (Biologie und Psychologie)

A.  Allgemeine biologische Probleme .

B.  Physiologisch-psychologische Probleme

C.  Probleme der allgemeinen und der differenziellen Psychologie

          1. Prinzipielles zur Psychologie

          2. Das Problem der Charakterologie

          3. Die sexuellen Typen

          4. Spezielle Psychologie von W

          5. Sexualität und Erotik

          6. Das Judentum

          7. Das Wesen der Genialität

 

III.     Die Probleme Weiningers aus dem Gebiete der Normwissenschaften

A.  Allgemeine Werttheorie

B.  Logik

C.  Ethik

 

IV. Metaphysik oder Persönlichkeits-Philosophie

A.  Der Mensch alsMikrokosmos und die Natur als Symbol

B.  Das Wesen des Weibes und sein Sinn im Universum

 

V. Schluß

 

 

 

 

VORWORT ZUR NEUEN AUSGABE

 

    Als diese Schrift zum erstenmal erschien, war ich siebenundzwanzig Jahre alt, jetzt bin ich dreiundvierzig.  Aus diesen Daten allein geht wohl schon hervor, daß manches anders aussehen müßte, wenn ich heute eine ähnliche Arbeit unternähme.  Es blieb mir die Wahl, alles neu zu machen oder alles zu lassen, wie es da steht.  Im ersteren Fall hätten sich zweifellos – auch gegen meine Absicht – eigene Gedanken und Urteile in den Vordergrund geschoben; ich müßte heute den extremen Dualismus Weiningers, der eigentlich Spiritualismus ist, ablehnen und ebenso seinen ethischen Rigorismus, der in dem Paradoxon gipfelt, daß Leben, und sittliches Leben unvereinbare Gegensätze sind (auch seine Theorie, daß Genialität klarstes Bewußtsein sei und einiges anderes).  Ich habe meine eigenen Gedanken über verwandte und fremde Gegenstände in den beiden Büchern „Die drei Stufen der Erotik“ und „Grenzen der Seele“ niedergelegt und werde einmal noch anderes folgen lassen.  Weil es sich aber in dem vorliegenden Büchlein um Otto Weininger handelt und mir die Darstellung seiner Gedanken noch heute klar und übersichtlich scheint, so entschied ich mich für den zweiten Weg: ich ließ alles, wie es ist und habe nur die Polemik fortgelassen.  Zwischen Weininger und seinen Herabsetzern hat indes die Zeit gerichtet: sein Werk lebt, dringt in immer weitere Kreise und nimmt heute eine nicht mehr zu schmälernde Stellung in unserer Gedanken- und Kulturwelt ein; von den Artikeln und Schriften aber, die kurz nach seinem Tode gegen ihn herauskamen, weiß man nichts mehr, kaum den Namen der Verfasser.  Meine Schrift wurde vielfach zu schwierig gefunden, schwieriger als die Werke Weiningers, zu denen sie doch einen Weg bahnen sollte. Dies mag seine Richtigkeit haben, ich würde heute manches weniger schulmäßig ausdrücken, doch ich habe nach einiger Überlegung auch da alles beim alten gelassen, um nicht mit unvermeidlich Fremdem zwischen Weininger und seine Leser zu treten, denn dieses Büchlein ist und bleibt Weininger dargebracht, und seine Stimme allein soll vernommen werden.

 

Wien, Jänner 1921.

 

Emil Lucka.

 

 

 

Für die Philosophie gibt es streng genommen
überhaupt keine Spezialuntersuchung;
jedes ihrer Sonderprobleme dehnt seine Linien
von selbst in die höchsten und letzten Fragen aus.

W. Windelband.

 

 

 

 

1. VORBEMERKUNGEN

 

    Kurze Zeit nach dem Tode Otto Weiningers (4. Oktober 1903) wurde es mir von befreundeter Seite nahegelegt, etwas über ihn und sein Werk zu veröffentlichen.  Ich habe mich jedoch damals nicht hierzu entschließen können, weil mich die Roheiten und Bosheiten, die dem Verstorbenen noch in das offene Grab von verschiedenen Leuten nachgesandt wurden, sowie auch die Lobsprüche, die ihm Wohlwollende in wenig passender Weise spendeten, nicht sonderlich anregen konnten, in den Chor einzustimmen.  Wenn der Lärm verrauscht ist, dachte ich mir, wird ja wohl ein Buch wie „Geschlecht und Charakter“ durch die Kraft seiner Gedanken hinreichend deutlich für sich selbst sprechen.  Es scheint aber, daß ich den Willen zur Wahrheit sowie das Fassungsvermögen der meisten Beurteiler überschätzt, daß ich die große Gewalt gehätschelter Lieblingsmeinungen und den Ärger über Dinge, die unangenehm zu hören sind, nicht hinreichend gewürdigt hatte.  An vielen Orten hat „Geschlecht und Charakter“ Beifall, ja Begeisterung erregt; mancher hat auch erkannt, daß es sich nicht so sehr um die zulängliche Beweisführung für diesen oder jenen einzelnen Satz, sondern um die Regeneration einer großen idealistischen en Weltanschauung handelt.  Es war aber nicht wohl vorauszusehen, daß sich's die ablehnende Kritik gar so leicht machen werde, wie sie es getan hat.  Kaum einer hat sich die Mühe genommen, den Gedankengängen zu folgen, und sachlich zu widerlegen, wo er nicht beistimmen konnte: man riß da und dort einen paradox klingenden Satz aus dem Zusammenhang, schrieb ein, wie man glaubte, vielbedeutendes, in Wahrheit aber nur die eigene Ohnmacht verratendes Rufzeichen dahinter, und sprach dann einige Worte von der Tribüne des überlegenen Richters herab, wenn man sich's nicht gar an verletzenden Bemerkungen über die Person des Autors genügen ließ.  Aber auch die wohlwollende Kritik zeigte zum größten Teil kein Verständnis für. die Probleme des Buches.  Besonders dies hat mich bestimmt, hier die wichtigsten Gedanken Weiningers in kurzer und möglichst übersichtlicher Weise darzustellen, wo ich mich zum Urteil befähigt fühlte, sachliche Kritik zu üben, auch einige Hinweise auf den Verfasser einzuschalten.  Vielleicht wird hierdurch manchem der wertvolle, ja unsterbliche Gehalt des Buches faßlicher, denn es ist seiner weiten Anlage nach nicht nur für Biologen, Psychologen und Ethiker vom Fach bestimmt, sondern in erster Linie für den Höhergebildeten, der es noch nicht verlernt hat, sich für allgemeine philosophische Probleme zu interessieren.  Den eigentlichen Anstoß zur Abfassung der vorliegenden Schrift gab aber der Wunsch von Weiningers Vater und eine im Oktober 1904 erschienene Broschüre, die in sachunkundiger und durchaus leichtfertiger Weise nach ehemals beliebter, heute allerdings etwas abgestandener Methode Weininger zum Irren stempeln will und ihn so neben den vorletzt entdeckten Narren Goethe stellt; dies ist aber zuviel der Ehre.

    Ich glaube zur Darstellung von Weiningers Gedankenkreis aus dem Grunde befähigt zu sein, daß ich in den zwei Jahren vor seinem Tode (bis auf die letzten drei Monate, die er teilweise in Italien zugebracht hat) sehr vertrauten Umgang mit ihm gepflogen habe, das Werden von „Geschlecht und Charakter“ zum großen Teil miterlebt und fast alle Details mit ihm wiederholt durchgesprochen habe.  Zudem decken sich meine eigenen Anschauungen vielfach mit denen Weiningers; sie haben zwar großenteils schon festgestanden, bevor ich seine Bekanntschaft gemacht hatte, erlitten aber durch seinen Einfluß vielerlei Modifikationen und haben in einigen Punkten auch auf ihn eingewirkt.  Ich bemerke gleich hier ein- für allemal, daß ich nicht alles billige, was er sagt, wohl aber das meiste.  Zur Kritik im einzelnen wird sich Gelegenheit ergeben.  Um jedem ein eigenes Urteil zu ermöglichen, wie weit ich allenfalls beitragen könne, Mißverständnisse aufzuklären, die sich in Menge aus der unzulänglichen Auffassung verschiedener Kapitel ergeben haben, will ich mir vorerst gestatten, einige persönliche Daten über mein Verhältnis zu Weininger mitzuteilen.

    Mehrere junge Männer, die sich alle für erkenntnistheoretische Probleme interessierten, hatten sich mit mir zusammen zu einem Kreise vereinigt, der solchen Studien gewidmet war.  Im Jahre 1901 versammelten wir uns wöchentlich einmal in einer Werkstätte, die dem Vater eines der Teilnehmer gehörte, und lasen unter der Leitung eines Sachkundigen die „Kritik der reinen Erfahrung“ von Richard Avenarius.  Wir nahmen die Sache ernst und sprachen über manchen Satz stundenlang.  Ein Freund führte in diese Gesellschaft den einundzwanzigjährigen Otto Weininger ein, der das Buch schon genau kannte und überhaupt in der modernen psychologischen und erkenntnistheoretischen Literatur vollkommen zu Hause war. (Ein Jahr vorher hatte er am Psychologenkongreß zu Paris teilgenommen.) Während der Diskussionen verhielt er sich meist schweigend, und stellte, wie es schien, Beobachtungen an, kam auch nicht allzuoft.  Er ist damals ein entschiedener Anhänger des Empiriokritizismus von Avenarius gewesen, den er später ganz verwarf, war aber für andere Ansichten sehr empfänglich.  Einen großen Teil des Rückweges gingen wir miteinander, und es stellte sich heraus, daß unsere Gedanken auffallend viele Berührungspunkte zeigten.  Obwohl ich um mehrere Jahre älter war als Weininger, war er mir an Wissen doch weit überlegen, und wies mich auf vieles hin, was mir noch nicht bekannt war.  Ich lud ihn zu mir ein, und es entspann sich binnen kurzem ein äußerst lebhafter und freundschaftlicher Verkehr. Unser Interesse an allen Zweigen der Philosophie und der Psychologie war gleich stark, wir harmonierten in den meisten Punkten, und besonders seit er in einem früheren Aufsatz von mir eine ziemlich beiläufige Bemerkung über die Frauen gefunden hatte, war vollständige Übereinstimmung eingetreten.  Er machte mir ein Kompliment über guten psychologischen Instinkt und gab mir seine Dissertation (deren Ausarbeitung „Geschlecht und Charakter“ ist) zu lesen.  Sie fesselte mich außerordentlich und brachte mich eine Zeitlang ganz in seinen Bann.  Wir saßen manche Nacht beisammen – oft mit anderen Freunden – und besprachen fast alles, was er noch weiter ausarbeitete.  Dieser intime Verkehr währte das Jahr 1902 und die erste Hälfte des Jahres 1903.  Dann wurde es immer schwerer, Weininger zu behandeln; er saß oft lange Zeit ganz in sich versunken und hörte kaum dem Gespräch zu.  Nach dem Erscheinen von „Geschlecht und Charakter“ (Mai 1903) trafen wir uns meistens nur noch einmal die Woche; er machte damals mir und anderen nicht selten einen düstern, unheimlichen Eindruck, konnte aber wieder höchst heiter sein.  Auf seinen damaligen Zustand komme ich noch ausführlich zu sprechen.

    Was mich an Weiningers Person besonders anzog, war ein Zug, der sich schwer beschreiben läßt.  „Unglücklich“ ist vielleicht nicht so zutreffend wie „glücklos“ oder „glückfremd“.  Ich glaube, Weininger hat nie in seinem Leben ein glückliches Gefühl, kaum das einfach vegetative der Ruhe gekannt, war sich aber über diese Unfähigkeit zum Wohlbefinden ganz klar und hat darunter gelitten.  Es ergriff mich oft, wie er stets von seinen Theorien gequält war, und nur selten naiv und unbefangen blicken konnte.  Er hätte in hohem Maße das Bedürfnis gehabt, reflexionslos zu lieben, besaß aber viel zu viel Redlichkeit gegen sich selbst, um nicht gleich wieder in fortgesetzter Analyse seinen letzten Motiven nachzugehen, seine Gefühle im Entstehen zu zerfasern und ethisch zu werten.  Wie er über die Liebe (im Gegensatz zur Sexualität) dachte, geht aus dem Kapitel „Erotik und Ästhetik“ hervor.  Weininger war ein Mensch, der nicht Moral predigte und Theorien aufstellte, um sich's hinterher wohl sein zu lassen; jeder Satz, den er für wahr erkannt, jedes moralische Postulat, das er aufgestellt hatte, war zuerst für sich selbst gesprochen; er hat es zustande gebracht, seine Philosophie zu leben, und wie er sich schwach fühlte, ist er freiwillig gestorben.  Welche Philosophie das aber ist, die so wirkt, die Leben zu gestalten vermag – das ist, persönlich betrachtet, gleichgültig.  Mag die Lehre des Sokrates gut oder schlecht gewesen sein; er war so von ihr erfüllt, daß er schuldlos gestorben ist, „weil es notwendig ist, daß man den Gesetzen gehorche“.  Weininger hat als sein Gesetz nicht fremde Tafeln, anerkannt; er hat es aus seiner eigenen Persönlichkeit hervorgeholt und dem gelebt, was ihm als Postulat sittlicher Autonomie galt.  Daß jemand sein höchstes Gesetz in sich selbst trägt, ist heute freilich verschollene Kunde.  Man bezieht es lieber von der Bequemlichkeit oder vom bürgerlichen Nutzen, wenn man sich’s nicht gar von der Polizei diktieren läßt.

    Ich glaube, daß sein Mißverhältnis zu allem, was Glück geben kann, Weininger den Selbstmord erleichtert hat, wenn dies auch selbstverständlich nicht der eigentliche Grund ist.  Wer Ernst damit gemacht hat, sich die stärkste vorhandene Illusion, den Glauben an das Ewig-Weibliche, der gerade dem Größeren so sehr Bedürfnis. ist, zu vernichten, steht dem Leben in seiner bunten Wirklichkeit schon recht kalt gegenüber.  Die Genüsse der Sinnlichkeit und Behaglichkeit, die dem Philister das Leben schlechthin, soweit es einen Sinn hat, bedeuten, sind bei Weininger, wie bei höheren Menschen in der Regel, kaum in Betracht gekommen.  Er stand ihnen gleichgültig gegenüber und merkte kaum, wenn er Hunger hatte.  Nur das Anhören von Musik (besonders von Bach, Mozart, Beethoven, Wagner und Bruckner) und die Schönheit der Natur wirkte auf ihn.[1]) Auf die eigentlichen Motive seines Selbstmordes werde ich noch zurückkommen.

    Ich habe das Vorstehende so ausführlich erzählt, um anzudeuten, daß mir alle Gedanken Weiningers (mit Ausnahme einiger der letzten Aphorismen) klar und verständlich sind, da er sie vielfach mit mir besprochen hat, und auch Einwände, zwar nicht gerne, aber doch mit Geduld anhörte.  In allem, besonders in den Teilen, die Erkenntnistheorie betreffen, kann ich ihm allerdings nicht zustimmen, obgleich mir auch da der Zusammenhang mit seinen Problemen immer bewundernswert erfaßt zu sein scheint; zur Beurteilung des biologischen Teiles (der in der ersten empiriokritischen Fassung viel umfangreicher war) reichen meine Kenntnisse nicht immer aus.  Dagegen halte ich fast alles, was Weininger auf dem Gebiete der Erfahrung über einzelne Themen der Psychologie und Charakterologie sagt, zumal was sich auf die Frauen bezieht, für wahr und bedeutend; es ist kaum jemals einem Theoretiker vergönnt gewesen, so tiefe Blicke in die menschliche Seele zu tun, und das in abstrakter Form auszusprechen, was ein Shakespeare, ein Dostojewskij konkret gestaltet haben.  Ich zweifle gar nicht daran, daß nur das heute allgemein verbreitete Vorurteil und die Scheu vor der ungemütlichen Wahrheit alle klar schauenden Männer abhalten können, ihre Zustimmung zu erteilen.  Es ist schon so weit mit der Kompromiß-Weltanschauung gekommen, daß Konsequenz, das heißt logisches Denken, für paradox gilt.  Aber es wird eine Zeit kommen, wo man es nicht begreifen wird, wie jemals so offen zutage liegende Dinge, deren Erkenntnis Fachstudien eher verhindern als befördern, übersehen werden konnten.  Ob dann ein jeder die Wertungen Weiningers akzeptieren wird, ist eine ganz andere Frage; aber die Tatsachen wird man sehen.  Mµ³±»· ® à»·¸µ1± x±1 Í;µ¿1ÃÇŵ1.

  Es scheint mir für meinen Zweck geboten, die wichtigsten Probleme, mit denen sich Weininger beschäftigt hat, darzulegen, soweit tunlich, an jedem einzelnen zu zeigen, was er übernommen, was er neues geschaffen hat, wie er die uralten Fragen, die die Menschheit bewegen, formuliert und weitergeführt, wie er neue gestellt hat.  Es wird sich herausstellen, daß Weininger die von Kant begründete Ethik auf die Psychologie und Charakterologie angewandt und auf ihrem eigensten Boden neue Lösungen gefunden hat.  Der ethische Idealismus wird an Fichte, die philosophische Schöpferkraft (die heute so im Verruf steht) an Schelling denken lassen, die Konsequenz um jeden Preis und manches Sachliche an Kierkegaard, der tragische Dualismus an Hebbel. Es braucht nicht gesagt zu werden, daß hier nur die wichtigsten Gedanken, und die in Umrissen auftreten können, denn um den Reichtum von „Geschlecht und Charakter“ kritisch zu würdigen, wäre ein Buch notwendig von nicht geringerem Umfang als das behandelte.  Dagegen werde ich einzelnes gründlicher besprechen.

    Bei der Darstellung der Probleme folge ich im ganzen der Einteilung der Wissenschaften, die Wilhelm Windelband in seinen Abhandlungen: „Was ist Philosophie“ und „Normen und Naturgesetze“ angeregt hat[2]); auch Heinrich Rickerts „Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung“ (1902) geben einige Anhaltspunkte.  Windelband unterscheidet 1. Wissenschaften, die theoretische Urteile über das aufstellen, was wirklich ist, die Gesetze feststellen oder einzelne Ereignisse erforschen und systemisieren, die Erfahrungswissenschaften; 2. Wissenschaften, die die Gesetze des „Normalbewußtseins“ erforschen, dessen, was allgemein gelten soll, auch wenn es nie wirklich wird; ihr Gegenstand sind die Beurteilungen, nicht die Urteile, d. h. die Werte. Windelband definiert so die Philosophie als „die kritische Wissenschaft von den allgemein gültigen Werten“ (S. 30).  Wenn der Name der Philosophie den normierenden Wissenschaften überhaupt gewahrt bleiben soll, so muß, wie ich glaube, an ihrer Spitze eine Disziplin stehen, die die Funktion des Normierens, das Wesen der Norm, das allen Zweigen Gemeinsame zum Gegenstande hat. Diese oberste Normwissenschaft wird allgemeine Werttheorie heißen müssen.  Die drei einander koordinierten speziellen Normwissenschaften sind nach Kants und Windelbands Vorgang die Wissenschaft vom richtigen Denken (Logik), vom richtigen Wollen (Ethik), vom richtigen Fühlen (Ästhetik), wobei ich von der Frage, ob eine normative Ästhetik, wie sie die Kritik der Urteilskraft begründet, haltbar sei, ganz absehe.  Diese Zweige hätten zusammen das „Normalbewußtsein“ zu konstituieren.

    Es ist den Normwissenschaften wesentlich, daß ihre Sätze allgemein und ohne Beziehung auf die Zeit Geltung haben.  Hieraus geht aber hervor, daß es eine Theorie geben müsse, die, die rein begrifflichen, zeitlos geltenden Normen in ein Verhältnis zur Zeit bringt, sie für die Kultur fruchtbar macht.  Dieser Zweig, der die Anwendung der Normen auf die Geschichte der Menschheit zum Ausdruck zu bringen hätte, ist besser als Kulturphilosophie denn als Geschichtsphilosophie und Rechtsphilosophie zu bezeichnen, und muß hauptsächlich den Wert der Religion, Kunst und Wissenschaft, nicht an sich, sondern für die Kultur untersuchen.  Die Kulturphilosophie hätte also neben der oberen, formalen Synthese, der Wertlehre, die untere, mehr inhaltliche Synthese zu vollenden; sie konstituiert das Kulturbewußtsein. Eine weitere Begründung dieses Schemas ist hier nicht erforderlich.

    Der Sinn und die Vorteile der Disposition sind klar: die Psychologie (als Gesetzeswissenschaft aufgefaßt) untersucht das menschliche Denken, wie es sich in Wirklichkeit abspielt, ohne Rücksicht darauf, ob wahr oder falsch gedacht werde.  Nur die Gründe interessieren sie warum dieser Mensch jetzt gerade so und nicht anders denkt; sie sucht alle Irrtümer in ihrer psychologischen (erfahrungsmäßigen) Bedingtheit zu begreifen.  Ihr Ideal ist, das menschliche Denken in seiner Fülle zu erschöpfen und vorauszubestimmen.  Die Logik aber fragt nicht, warum denkt dieser Mensch so und jener anders, warum kommt jeder zu anderen Resultaten?  Sie sucht die Normalgesetze des Denkens auf, sie fragt nach dem Wahren, nicht nach dem Wirklichen, sie konstruiert das normale Denken der Menschheit, die gesamte wissenschaftliche Philosophie das Normalbewußtsein der Menschheit.  Sie bildet so gewissermaßen ein Gegenstück zu einer einzigen Erfahrungswissenschaft, der Psychologie, mit der sie in seichten Zeiten auch gerne gleichgesetzt wird.

    In Weiningers Darstellung ist öfters die Beschreibung psychologischer Tatsachen und die zugehörige Theoriebildung mit der Wertung nach logischen und ethischen Normen verwoben.  Dies hängt damit zusammen, daß er auf die ursprüngliche, rein beschreibende Konzeption von „Geschlecht und Charakter“ (in seiner Avenarius-Periode) eine ethische Werttheorie aufgebaut hat (in seiner Kant-Periode); daß aus einer Spezialarbeit über Biologie, Psychologie und Charakterologie ein philosophisches Buch geworden ist. Weininger begründet diesen Mangel an Einheitlichkeit in der Vorrede (S.  XII): „Vielleicht wird mancher dafürhalten, daß ich aus dem Ganzen besser zwei Bücher hätte machen sollen, ein rein naturwissenschaftliches und ein rein introspektives.  Allein ich mußte von der Biologie mich befreien, um ganz Psychologe sein zu können.“ Der Mangel ist ausschließlich methodischer Natur und tut den Gedanken keinen Abbruch; aber er erschwert die systematische Darlegung, die ich beabsichtige, und es ist manche mit einem Wertindex behaftete Frage in den Abschnitten nicht zu umgehen gewesen, die davon eigentlich nicht hätten berührt werden sollen.

    Die von mir befolgte Methode hat, ich verhehle mir es nicht, noch einen sehr wesentlichen Nachteil.  Sie kann dem großen Zug der Darstellung Weiningers, die in einem Anlauf hinanstürmt und, von der ganzen Wucht der Konsequenzen getragen, siegt nicht folgen, sondern muß die Probleme gesondert und einige sogar in Teile zerrissen (so z. B. das Wesen der Genialität) vorführen.  Wenn ich trotzdem um der größeren Klarheit willen den mühsameren Weg der systematischen Darstellung gewählt habe, so geschah es, weil mein Leitfaden keinesfalls einen Ersatz der eigenen Lektüre, sondern nur eine kleine Hilfe bieten sollte.  Die Größe von Weiningers Weltanschauung kann nur aus dem systematischen Hauptwerk „Geschlecht und Charakter“ und aus der nachgelassenen Sammlung „Über die letzten Dinge“ richtig erfaßt werden.

    Es wird jetzt einleuchten, was die vorangehenden Ausführungen sollen: notwendigstes Erfordernis in jedem Gedankensystem, vollends in jedem philosophischen ist, genau zu sondern.  Ein anderes ist es, die Wirklichkeit beschreiben, in Gedanken abbilden und begrifflich-systematisch ordnen; ein anderes, Normen aufstellen, Postulate begründen für das, was sein soll.  Wenn der Positivist glaubt, die letzteren entbehren zu können, so ist er über sein eigenes Beginnen im unklaren, denn die simpelste Nützlichkeitsdoktrin ist ein System von Normen, und ein viel dogmatischeres als die formale Ethik Kants, die nur die Form alles Normierens kennt.  Hätten die Kritiker Weiningers genau auseinanderzuhalten verstanden, wo er beschreibt und wo er postuliert, so wäre viel Unsinn ungesagt geblieben.

  Das größte, ja das einzige Positive, was die Spezialwissenschaften für die Philosophie, für die Stellung des Menschen zur Welt, leisten können, ist vielleicht die Erkenntnis, daß keine einzige, wie immer geartete wissenschaftliche Einzel-Erkenntnis den geringsten Einfluß auf eine wirkliche Weltanschauung haben kann.  Die Ergebnisse der Naturwissenschaften, der Psychologie und der Geschichtswissenschaften mögen sein, welche sie wollen, – sie können der Philosophie nichts bieten.  Der Naturforscher kommt nie zur Frage der Fragen, zum Problem des Wertes: was bedeutet das alles?  Wenn jemand trotzdem glaubt, vom speziellen Standpunkt, von Naturwissenschaft oder Historie, etwas zur Beurteilung alles Seins leisten zu können, so beweist er nur, daß er den allgemeinen Punkt noch nicht einmal gesehen hat, auf dem er Posto fassen müßte.  Die Geschichte des menschlichen Denkens könnte ja leichtlich die Unabhängigkeit der Philosophie von jeder Einzel-Erfahrung demonstrieren, aber man liebt es heute zu glauben, daß durch die Spezialisierung der Naturwissenschaften etwas prinzipiell Neues in die Welt gekommen sei.

    Der Fundamentalfehler jeder naturwissenschaftlichen Weltanschauung ist die Fragestellung, die ihr konsequenterweise als wichtigste anhaften muß: Was können wir wissen?  Diese Frage darf aber nicht die erste sein, sondern erst die zweite.  Die erste heißt: Was wollen wir wissen?  Erst wenn die entschieden ist, sollte weiter gefragt werden, was wir von allem Wissenswerten auch wissen können, und so kommen wir an die Grenzen der Erkenntnis.  Im Alles-Wissen-Wollen (das ist der Wunsch, der die erstere Frage gestellt hat) liegt aber schon die Unmöglichkeit einer einheitlichen Methode inbegriffen; es werden „Regenwürmer“ gefunden anstatt Edelsteine, denn wenn man alles wissen will, so findet man natürlich meist Wertloses, und glückt einmal ein guter Fund, so ist es Zufall.  Daran krankt unser wissenschaftlicher Geist am meisten, daß er (auf allen Gebieten) zusammenscharrt und den Staub in Archiven deponiert, anstatt erst zu fragen: Was gilt's? und dann zu suchen.  Vielleicht wäre es aber dann nicht mehr so leicht, Kärrner zu sein, wie es heute tatsächlich ist.

    Der bedeutsamste Unterschied zwischen allen Philosophien ist der Maßstab, wovon der höchste Wert abgenommen wird.  Für die einen (Spinozismus, alle Arten des Positivismus) ist einziges Maß das Sein, und Hegel hat mit seiner Gleichung Sein = Vernünftigsein = Gutsein die letzte Formulierung alles Naturalismus gegeben[3]).  Wenn diese Philosophie konsequent ist, so kennt sie keine Persönlichkeit und keinen Wert und verzichtet auf alle Logik.  Ihr bedeutet alles gleich viel – nichts. Die anderen Philosophen (alle idealistischen und religiösen Systeme) erkennen eine Instanz an, woran die Wirklichkeit zu werten ist, sie suchen nach den Kriterien der Wahrheit, und nur für sie gibt es eine Normwissenschaft und eine Kultur, d. h. ein System von gewollten Werten.  Für sie ist der Mensch noch etwas anderes als ein lustsuchendes und schmerzfliehendes Tier. Weininger hat diesen Willen zum Wert klar gefaßt und verewigt, er war sein treuester Prophet, und in dem höchsten Wert, dem der Wahrheit, treffen ihm Logik und Ethik zusammen.  „Ein Mensch ist um so bedeutender, je mehr alle Dinge für ihn bedeuten“, je mehr Wert er ihnen schenken kann.

 

„Willst du dich der Weit erfreun,
Mußt der Welt du Wert verleihn“
[4])

 

hat der heute als „Monist“ verschriene Goethe in Schopenhauers Tagebuch geschrieben.

 

    Je höher in einem Menschen der Wille zum Wert potenziert ist, desto mehr ist dieser Mensch (und je mehr eine Kultur davon durchtränkt ist, desto größer ist sie).  Auf dem Gebiete der Erkenntnis heißt er Wille zur Wahrheit, und im Philosophen wird er Wille zum System. Ob einer die Kraft hat, das System auszubauen, ist eine sekundäre Frage, auf deren Beantwortung wenig ankommt.  Aber das rastlose Streben nach der Überwindung aller Widersprüche, nach der Auflösung aller Dissonanzen in eine ungebrochene Harmonie, der unbeugsame Wille zur Synthese, zur Geburt der Einheit aus dem Vielen: ecce philosophus.  Und das war Otto Weininger. Der Mann, der die Welt zerbricht, um eine granitne Pyramide aus ihren Stücken erstehen zu lassen.

 

 

 

II.DIE PROBLEME WEININGERS AUS DEM GEBIETE DER ERFAHRUNGSWISSENSCHAFTEN (BIOLOGIE UND PSYCHOLOGIE)

 

    In welchen Wissenschaften lassen sich Beweise im strengen Sinn führen?  Nur in den rationalen, in den Normwissenschaften.  Was in der Erfahrungswissenschaft Beweis heißt, ist immer ein Wahrscheinlichmachen, ein Einordnen des Neuen in den Kranz des Alten, eine widerspruchslose Beschreibung.  Die Frage nach dem Beweisenkönnen hat für das Gebiet der introspektiven Psychologie besondere Bedeutung.  Der Naturbeobachter richtet seinen Blick auf ein Phänomen der Außenwelt, teilt anderen in begrifflich gereinigter Sprache mit, was er gesehen hat, und fordert sie auf, denselben Gegenstand zu betrachten. Er rechnet darauf, daß sie seine Urteile bestätigen werden.  Nicht immer herrscht Übereinstimmung, aber meist läßt sich die Anerkennung aller anderen leicht gewinnen, wenn klar geschaut und richtig formuliert worden ist.  Anders verhält sichs bei der Schilderung dessen, was man im eigenen Bewußtsein wahrgenommen hat. Hier ist der Subjektivität natürlich ein viel größerer Spielraum frei, und in Aussagen über differenziertere Gegenstände wird die Zustimmung aller schwer zu erzwingen sein. Ja, es kann wohl geschehen, daß einer etwas genau in sich wahrgenommen hat, es auch gut beschreibt, und doch findet es der andere gar nicht in sich vor.  So bleibt der beschauliche Zustand des Mystikers den meisten unbekannt; mancher lächelt, wenn er die Schilderung liest, aber der wahre Psychologe, der Seelenkenner, konstatiert am anderen, was er selbst nicht ganz nachfühlen kann.  Von dieser psychologischen Evidenz, die nur bestätigen kann, ohne einen Beweis im Sinn der Geometrie zu kennen, will ich ein persönliches Beispiel geben: Als ich zum ersten Male bei Chamberlain den Satz las, Dante sei ein Germane gewesen, leuchtete mir dies mit großer Überzeugungskraft ein.  Manches, was mir beim Studium Dantes als unverträglich mit südlichem Wesen erschienen war, erhellte sich mir plötzlich, und ich sah das Bild des Dichters in größerer Schärfe vor meinem Auge.  So war es zufällig bei mir. Ein anderer aber fragt: wie beweist er seine Behauptung? (Ich sehe hier davon ab, daß sich bei Dante zufälligerweise genealogische Anhaltspunkte finden.) Und so ist die Möglichkeit für jede feinere Aussage, die eben auf dem Instinkt für Kultur und geistiges Wesen beruht, abgeschnitten, wenn da „Beweise“ im Sinne der Mathematik oder nur der äußeren Erfahrung gefordert werden.  Es ist mit vielen Gedanken wie mit der Außenwelt, deren Existenz nicht anders bewiesen werden kann als durch die ihr innewohnende Evidenz.  Der eine sieht in Dingen und Menschen, was dem anderen verschlossen bleibt.  Mit der unmittelbaren Evidenz ist schon mancher Mißbrauch getrieben worden, und doch kann die feinere Psychologie dieses Mittel nicht entbehren; fortwährende Kontrolle muß die unsichere Methode möglichst brauchbar machen.  Eine eigentliche Verständigung ist ja nur unter denen möglich, deren Interesse ungefähr denselben Gegenständen zugewandt ist, und die wenigstens zum Teil eine gemeinschaftliche geistige Basis haben, und nur von solchen wird man angeregt, die im Grundsätzlichen ähnlich denken.  Daß sich vom Gegner lernen lasse, ist nur sehr bedingt und in formaler Beziehung wahr.

    Viele Sätze Weiningers im zweiten Teil seines Buches haben diese selbe Evidenz (wobei aber die Wucht der geschlossenen Systematik dem gröberen Denken nachhilft).  Es gibt für psychologische Beobachtungen überhaupt keinen Beweis, sondern nur Verifikationen.  Darum hat ja unsere Zeit, die nur noch ihren Sinnen, nicht ihrem Denken traut, die experimentelle Psychologie, diese „knolligste“ aller Wissenschaften, erfunden, um bei Pulsmessern an Physik, bei Schwankungstabellen an Mathematik erinnert zu werden, so über das Wie des Beobachtens ganz das Was vergessend; und nun steht sie da wie Hans, der auszog, den Schatz zu suchen und stolz eine getürmte Last dürres Holz heimtrug.  Wie will man wohl wirkliche psychologische Beobachtungen (nicht empfindungsanalytische Messungen) beweisen?  Entweder leuchtet es ein, daß Othello ein wahres Bild der Eifersucht ist, oder nicht.  Allerdings ist die wissenschaftliche abstrakte Methode der Theoriebildung etwas anderes als die künstlerische Schöpfung einer individuellen Gestalt.  Und hier liegt auch der Fehler, dem Weininger mehrere Male nicht entgangen ist: er hat, was sein unglaublich feiner psychologischer Blick erschaut hatte, manchmal zu leichtfertig verallgemeinert.  Für die empirischen Wissenschaften und also auch für die Psychologie ist die Erfahrung maßgebend, und wenn auch das scharfe Auge des Bevorzugten nur ein sehr geringes Material braucht, und die Forderung einer riesigen Erfahrung durchaus schülerhaft und töricht zu nennen ist[5]), so bleibt doch die theoretische Ausbildung nur einer einzigen Seite der Wirklichkeit sehr zu fürchten, und davon ist Weininger nicht freizusprechen, so insbesondere bei der Theorie vom Genie und vom Ich.  Ich gehe nun zu den einzelnen Problemen über.

 

 

A. ALLGEMEINE BIOLOGISCHE PROBLEME

 

    Weiningers Grundproblem heißt: Mann und Weib. Er hat die allgemein-biologische und die anatomischphysiologische Literatur jahrelang systematisch durchforscht, hat am anatomischen und am physiologischen Institute der Wiener Universität, auf den Kliniken und in der Niederösterreichischen Landes-Irrenanstalt planmäßige Beobachtungen gesammelt, um das Material zu beherrschen und seine Auffassungen auf physiologischer Basis begründen zu können.  Ich vermag auf diesem Gebiet nicht zu entscheiden, was sein Eigentum ist, was er aus dem vorhandenen Schatz des Wissens entlehnt hat (wie in den Nachweisen zu ersehen), und stelle kurz seine Theorie dar.

    Wie sich aus der ursprünglich zweigeschlechtigen Anlage des menschlichen und tierischen Embryos erst später die männlichen oder weiblichen Genitalorgane herausbilden, um dem neuen Wesen seine Stellung fürs Leben anzuweisen, so ist anzunehmen, daß diese erste Anlage zwar nach einer von beiden Richtungen hin weiterentwickelt wurde, aber nicht ganz verschwunden ist.  Diese Theorie von der Bisexualität alles Lebenden hat nach dem Erscheinen von „Geschlecht und Charakter“ eine neue, sehr gediegene Bestätigung durch Dr. H. Swoboda („Die Perioden des menschlichen Organismus in ihrer psychologischen und biologischen Bedeutung“, Leipzig 1904) gefunden, der glaubt, daß die von ihm begründete Periodenlehre „einmal ein gutes Mittel sein werde, den Grad der Männlichkeit und Weiblichkeit – in Weiningers Terminologie, den Prozentgehalt an M und an W – festzustellen“ (S. 32). Es sind also in jedem lebenden Menschen männliche und weibliche Zellenelemente enthalten, ja jede einzelne Zelle ist als geschlechtlich charakterisiert anzunehmen. „Das Geschlecht steckt überall im Körper.“ Naegelis Idioplasmatheorie lehrt, daß jede Zelle eines vielzelligen Organismus Träger der gesamten Arteigenschaften sei; im Anschluß hieran führt Weininger die Begriffe des Arrhenoplasmas, der männlichen Zellsubstanz, und des Thelyplasmas, der weiblichen Zellsubstanz ein.  Ein Mensch, dessen Körper ganz aus ersterem aufgebaut wäre – ein Idealfall – müßte im physiologischen Sinn als der ideale Mann (M), ein Mensch aus letzterem bestehend, als das ideale Weib (W) angesprochen werden.  Beide kommen in der Wirklichkeit nicht vor. Zwischen den begrifflich konstruierten Extremen schwanken die lebenden Menschen, jeder hat seinen Teil von beiden Plasmen. „Es gibt unzählige Abstufungen zwischen Mann und Weib, sexuelle Zwischenformen.“[6]) Hier wird zum ersten Male die methodische Schulung Weiningers fruchtbar.  Das Objekt aller Wissenschaft ist der Typus, nicht der durch zufällige Umstände modifizierte Einzelgegenstand.  Nie kann ein Physiker die Fallgesetze in ihrer Reinheit in der Natur beobachten; aus der fragmentarischen Erfahrung muß er die Formel herausschälen, und sein bekanntes methodisches Mittel hierzu ist das Experiment. So verfährt Weininger auf seinem Gebiet. Gleichwie der Physiker ideale Typen von Wirklichkeiten konstruiert, die nie vorkommen und die er Gesetze nennt, so werden hier zwei sexuelle Idealtypen M und W aufgestellt.  „Nicht allein das ‚Objekt der Kunst’, auch das Objekt der Wissenschaft ist der Typus, die platonische Idee.  Die wissenschaftliche Physik erforscht das Verhalten des vollkommen starren und des vollkommen elastischen Körpers, wohl bewußt, daß die Wirklichkeit weder den einen noch den anderen ihr je zur Bestätigung darbieten wird; die empirisch gegebenen Vermittlungen zwischen beiden dienen ihr nur als Ausgangspunkt für diese Aufsuchung der typischen Verhaltungsweisen und werden bei der Rückkehr aus der Theorie zur Praxis als Mischfälle behandelt und erschöpfend dargestellt. Und ebenso gibt es nur alle möglichen vermittelnden Stufen zwischen dem vollkommenen Manne und dem vollkommenen Weibe.“ Jeder wirkliche Mensch hat seinen Teil M und seinen Teil W in sich, was an den weiblichen Männern und den männlichen Frauen sinnfällig wird.  So gibt es gewissermaßen nur sexuelle Zwischenstufen. Dieses Prinzip erweist sich als äußerst fruchtbar und führt zu einer zweiten Gruppe von Fragen hinüber.

 

 

 

B.PHYSIOLOGISCH-PSYCHOLOGISCHE PROBLEME

 

    Das Geschlechtsleben des Menschen ist von seiner Physis bestimmt. Die Tatsache des verschiedenen sexuellen Geschmackes fordert die Frage nach den Gesetzen dieses Geschmackes gebieterisch heraus, und Weininger stellt nun das wichtigste dieser Gesetze mit einem hohen Grade von Wahrscheinlichkeit auf; ,ausdrücklich betont er aber, daß noch andere zu suchen bleiben.  Das Gesetz lautet: „Zur sexuellen Vereinigung trachten immer ein ganzer Mann (M) und ein ganzes Weib (W) zusammenzukommen, wenn auch auf die zwei verschiedenen Individuen in jedem einzelnen Falle in verschiedenem Verhältnisse verteilt.“ Wenn also z. B. in einem Menschen 3/4 M und 1/4 W vorhanden sind, so gilt er als Mann und findet seine sexuelle Ergänzung in einem Weib mit 1/4 M und 3/4 W. Der (anatomisch-physiologisch) vollkommene Mann (M = 1, W = 0) träfe sein Korrelat in dem vollkommenen Weibe (M = 0, W = 1).  Auf die weitere Ausbildung dieser Formeln gehe ich nicht ein, bemerke aber, daß die Erhellung, die sie auf das dunkle Gebiet der Homosexualität werfen, überraschend genannt werden muß. Das konträre Geschlechtsgefühl ist für Weininger keine Ausnahme von der Regel, sondern ein Spezialfall, der sich aus der Grundformel notwendig ergibt, wenn in einem Individuum die Relation eingetreten ist: M = 1/2, W = 1/2.  Dieselbe Naturgewalt, die die chemischen Elemente zueinander reißt, regiert im Physiologischen, und mit Stolz betont hier Weininger, daß er den leitenden Gedanken von Goethes „Wahlverwandtschaften“ wissenschaftlich klar zu formulieren vermochte. Gegen die Theorie von M und W läßt sich einwenden, daß sie nicht alles erklärt, was gefordert werden könnte, und das gibt ihr Urheber selbst zu. Aber der Vorwurf, den Weininger zu hören bekam, es sei nur das alte Lied, das Schopenhauer in seiner Metaphysik der Geschlechtsliebe angestimmt hat, ist unzutreffend. Ein großer Unterschied ist es, einfach zu sagen: Gegensätze ziehen sich an, dazu einige aphoristische Beispiele zu geben – und das Wesen dieser Gegensätzlichkeit von der hypothetischen Zelleneinheit aus durch die ganze körperliche Organisation durchzufahren selbst der Versuch, in Formeln zu schließen, was unberechenbar schien, ist bedeutend zu nennen. Auf Einwände, die sich aus den komplizierteren psychischen Tatsachen ergeben, werde ich noch zurückkommen. Aber auf jenen Vorwurf, der auch gegen andere Anschauungen Weiningers erhoben wurde, hat schon Kant erwidert: „Denn dergleichen allgemeine und dennoch bestimmte Prinzipien lernt man nicht leicht von anderen, denen sie nur dunkel obgeschwebt haben. Man muß durch eigenes Nachdenken zuvor selbst darauf gekommen sein, hernach findet man sie auch anderwärts, wo man sie gewiß nicht zuerst würde angetroffen haben, weil die Verfasser selbst nicht einmal wußten, daß ihren eigenen Bemerkungen eine solche Idee zum Grunde liege.  Die, welche niemals selbst denken, besitzen dennoch die Scharfsichtigkeit, alles, nachdem es ihnen gezeigt worden, in demjenigen, was schon sonst  gesagt worden, aufzuspähen, wo es doch vorher niemand sehen konnte.“ (Prolegomena, § 3.)

    Das Problem der sexuellen Anziehung führte aus dem Gebiete der reinen Physiologie; nun tritt ein neues Problem, das der Charakterologie, auf den Plan, das später zu hoher Bedeutung anwachsen soll.  Weininger steht hier auf dem Boden des Parallelismus zwischen Physischem und Psychischem, nicht in dem Sinne, wie er heute meist verstanden wird, sondern in dem allgemeineren, daß jedem körperlichen Elemente ein seelisches zugeordnet sei. Der körperlichen Bisexualität entspricht im Geistigen dasselbe Prinzip. Hier wird der Gedanke der Periodizität im psychischen Leben angeregt (S. 65, 71, 91), der berufen zu sein scheint, eine große Rolle in der Psychologie der Zukunft zu spielen (vgl. Swoboda, op. cit.). Die weitere theoretische Sonderung des M-Gehaltes in einem konkreten Individuum von seinem W-Gehalt ist eine der Hauptaufgaben des Buches. Sie ist in zweifacher Hinsicht zu erreichen: entweder durch die Beschreibung der „sexuellen Mannigfaltigkeit“ im Geistigen, durch die Analyse der allein wirklich existierenden sexuellen Zwischenstufen. Diese Untersuchung wäre mit viel Aussicht auf Erfolg nicht allzu schwierig anzustellen gewesen; die Durchforschung von Biographien verschiedener Persönlichkeiten hätte dabei gute Dienste geleistet. Weininger verschmäht aber diesen Weg, der breit und eben ist, und wählt die zweite, schwierigere Möglichkeit.  Er konstruiert auf synthetischem Wege die „sexuellen Typen“, die ideale Mannespsyche und die ideale Weibespsyche. Bis hierher mußte der Gang der Untersuchung psychophysiologisch sein.  Was für das Gebiet der Morphologie im Körperlichen, das gilt (den Parallelismus angenommen) für das Gebiet der Charakterologie im Seelischen.  Es erschließt sich der Sinn der Physiognomik, ohne daß aber näher in diese noch nicht bestehende Wissenschaft eingegangen werden würde.  „Das Problem der Physiognomik, ist das Problem einer konstanten Zuordnung des ruhenden Psychischen zum ruhenden Körperlichen, wie das Problem der physiologischen Psychologie das einer gesetzmäßigen Zuordnung bewegten Psychischen zum bewegten Körperlichen.  Das eine ist gewissermaßen statisch, das andere rein dynamisch.

 

 

    Weininger unternimmt es nun in dem Schlußkapitel des ersten Teiles, der die Vorarbeit für die Konstruktion der sexuellen Typen zu liefern hat, auf Grund der neugewonnenen Erkenntnisse zum ersten Male, von der Voraussetzung der Bisexualität alles Lebenden aus, die Frauenfrage zu analysieren.  Unerwartetes Licht fällt auf dieses Thema, das doch so abgewendet schien wie der Kuhanger im Herbst.

    Das Kapitel „Die emanzipierten Frauen“ bringt den ersten vorläufigen Abschluß einer empirischen Untersuchung, die, von der physiologischen Theorie des Arrhenoplasmas und des Thelyplasmas ausgehend, im Prinzip der sexuellen Zwischenformen eine theoretische Lösung dessen bietet, was man heute „Frauenfrage“ nennt, jedoch ausdrücklich nur eine Lösung, soweit sie nicht im Bereich der soziologischen und Wirtschafts-Wissenschaften gelegen ist. Diese erste „provisorische“ Lösung (die aber durch die spätere definitive, wertende ganz überwunden ist) kommt zu dem notwendigen Schluß, daß sich in jeder einzelnen Frau die Faktoren emanzipieren wollen, die gar nicht weiblich sind.  Der Man in ihr, alles was M ist, strebt danach, sich von W loszureißen. „Das Emanzipationsbedürfnis und die Emanzipationsfähigkeit einer Frau liegt nur in dem Anteile an M begründet, den sie hat.“ Selbstverständlich ist unter „Emanzipation“ nicht alles das zu verstehen, was heute mit möglichst großer Unklarheit unter dieser Flagge segelt, sondern das Wesentliche: „Der Wille des Weibes, dem Manne innerlich gleich zu werden.“ W selbst hat gar kein Bedürfnis nach Emanzipation, und die Frauen mit geringem Gehalt an M können diesen Gedanken nicht einmal fassen. Nur die Zwischenstufen, die sich schon der Scheidelinie nähern, da M und W je 1/2 werden, haben immer und so auch heute das Bedürfnis nach Emanzipation empfunden und haben auch auf geistigem Gebiete etwas erstrebt und etwas geleistet.  Diese Auffassung ist so einfach und treffend, daß sie jeder, der sie einmal verstanden hat, an seinen eigenen Erfahrungen vielfach bestätigt finden wird; sie geht unendlich gründlicher zu Werke, als etwa die billige Ansicht mancher Männer (z.  B. von P. J. Möbius), die in der Emanzipation eine Degenerationserscheinung sehen will.  Die Frauen, denen die Emanzipation nicht Sport, sondern Ernst ist, sind hierdurch vollständig gerechtfertigt: das männliche Element in ihnen empfindet das weibliche als Fessel und will los von ihm.  Die Theorie von der Bisexualität erklärt zweifellos alles, was Frauen „Bedeutendes“ geleistet haben (mit der homosexuellen Sappho an der Spitze) und erleidet nur eine Komplikation durch die Hysterie, die später zu erledigen ist.  Warum zu gewissen Zeiten die sexuellen Zwischenformen in großer Anzahl auftreten, warum heute so viele Männer weibisch und so viele Weiber mannartig sind, das ist eine offene Frage. Aber die praktische Lösung muß den Zwischenstufen ihr Recht geben, und es wäre unnütze Grausamkeit, die Frauen mit starkem Gehalt an M von den männlichen Berufen auszuschließen. Eine differenzierende Jugenderziehung könnte manches spätere Unheil abwenden.  Die tiefere ethische Lösung der Frauenfrage ist allerdings an dieser Stelle noch nicht möglich.

 

 

 

C. PROBLEME DER ALLGEMEINEN UND DER DIFFERENZIELLEN PSYCHOLOGIE

 

1. Prinzipielles zur Psychologie

 

    Als Fechner, Weber und Helmholtz die experimentelle Methode in die Psychologie einführten, glaubte man eine neue fruchtbare Epoche für diese Wissenschaft angebrochen und hoffte, sie gleich den Naturwissenschaften bald eilende, Fortschritte machen zu sehen. Heute, da ein Unzahl von Versuchsreihen vorliegt, da Institute und Laboratorien aufgerichtet sind, die mit allen physikalischen in Wettbewerb treten können, dämmert den tieferblickenden Köpfen die Erkenntnis, daß es zwar interessante Dinge waren, die da erforscht wurden, aber keine Psychologie. Vermutlich ist auch dieser „Liepziger Wissenschaft“ in Wundts „Psychologischer Psychologie“ ein schöner Leichenstein gesetzt.  Man weiß jetzt mancherlei darüber, wie die Lust aus dem Genusse minimaler Zuckerdosen den Herzschlag beschleunige, wie viele Glühlämpchen schon leuchten müssen, daß man ein neu entflammtes gar nicht bemerke, u. dgl. m. Viele haben wohl auch schon vergessen, daß man ursprünglich etwas über das Seelenleben des Menschen erfahren wollte, und nicht Tabellen über die Mechanik seiner Sinne gewinnen. Richard Avenarius (im Il.  Band seiner „Kritik der reinen Erfahrung“) in Deutschland und der gründlichere William James in Amerika haben die „Mosaik-Psychologie“, die das Seelenleben den alten naturwissenschaftlichen Methoden analog aus Atomen zusammensetzen wollte, bewußt aufgegeben, um an Stelle der Analyse der Empfindungen die Darstellung des vollen psychischen Lebens zu setzen.  „The stream of thought“ heißt das programmatische Kapitel bei James („The principles of psychology“, I, 224) und beginnt so: „We now begin our study of the mind from within.  Most books start with sensations, as the simplest mental facts, and proceed synthetically, constructing each higher stage from those below it. But this is abandoning the empirical methöd of investigation.  No one ever had a simple sensation by itself.“ Vom allgemeinerkenntnistheoretischen Standpunkt aber gibt die beste Definition der Psychologie meines Erachtens F. J. Schmidt („Grundzüge der konstitutiven Erfahrungsphilosophie“, 1901), der sie als „die Wissenschaft von den konkreten Erfahrungsprozessen des individuellen Bewußtseins“ bezeichnet, die vom Erfahrungszusammenhang, nicht von einzelnen Erfahrungsvorgängen auszugehen habe.

  Weininger hält die immanent-psychologische Methode das ganze Buch hindurch fest, und nennt wenig höflich, aber sehr zutreffend die heutige Schulpsychologie, „die zu den Problemen, die man als eminent psychologisch sonst zu bezeichnen gewohnt ist, zur Analyse des Mordes, der Freundschaft, der Einsamkeit usw. gar nicht gelangt, ja zu ihnen gar nicht gelangen kann, weil sie in einer ganz anderen Richtung sich bewegt als in einer, die sie am Ende doch noch dahin führen könnte“, – diese Psychologie nennt er „Empfindungskleister“, und erhebt den Ruf nach einer psychologischen Psychologie: „Hinaus mit der Empfindungslehre aus der Psychologie!“ (James hat damit noch nicht Ernst gemacht.) In dem bereits zitierten wertvollen Buche Swobodas heißt es ganz analog: „Emanzipation von den Methoden der Naturwissenschaft für die Psychologie.“ Weininger fügt der Avenariusschen Unterscheidung aller Bewußtseins-Inhalte in „Elemente“ und „Charaktere“ sogleich einen neuen fruchtbaren Begriff die „Henide“ (von ­½, eins) hinzu. „Element“ ist für Avenarius jede „Empfindung“, „Vorstellung“, „idea“, die mit oder ohne äußeren Reiz auf das Sinnesorgan perzipiert oder reproduziert wird; „Charakter“ der Gefühlston, die psychische Färbung, und zwar nicht nur „angenehm“, „schön“, sondern auch „befremdend“, „unheimlich“, „anders“, „sicher“ etc.  Nun gibt es aber ein Stadium für jeden psychischen Inhalt, wo derselbe wie in einem verschwommenen Hintergrund auftaucht, noch keine Reliefierung besitzt, nicht recht zu fassen ist. Diese psychische Seinsart hat Weininger zuerst erkannt und nennt sie „Henide“.  „Jedem neuen Gedanken geht ein solches Stadium des ‚Vorgedankens?, wie ich es nennen möchte, vorher, wo fließende geometrische Gebilde, visuelle Phantasmen, Nebelbilder auftauchen und zergehen.“... „Anfang und Ende des ganzen Herganges, den ich in seiner Vollständigkeit kurz den Prozeß der ,Klärung? nenne, verhalten sich in gewisser Beziehung wie die Eindrücke, die ein stark Kurzsichtiger von weit entfernten Gegenständen erhält mit und ohne die korrigierenden Linsen. Und wie im Leben des einzelnen, so gehen auch in der Geschichte der Forschung die ,Ahnungen? stets den klaren Erkenntnissen voran.  Es ist derselbe Prozeß der Klärung, auf Generationen verteilt.“

    Die absolute Henide ist nur ein Grenzbegriff; alle wirklichen psychischen Erlebnisse schwanken fortwährend zwischen ihr und der höchsten, vollkommen gegliederten Klarheit hin und her.  Man kann die einzelne Henide nicht beobachten, sie ist ein Schatten, der durch das „Blickfeld“ (nicht den „Blickpunkt“) huscht; erst wenn er in farbiger, deutlicher Gestalt auftritt, läßt er sich dingfest machen, dann weiß man: dies ist schon früher da gewesen. Der neue Begriff der Henide erlangt in der Sexualpsychologie große Bedeutung.

 

 

2. Das Problem der Charakterologie

 

    Die Erkenntnistheorie (Transszendentalphilosophie) sucht nach Gesetzen, die für alles Sein Geltung haben, die Psychologie nach solchen, die für alle Menschen, die Charakterologie nach noch begrenzteren, die nur für Gruppen von Menschen gelten.  Es gibt heute noch keine wissenschaftliche Charakterologie, keine Lehre von den menschlichen Typen, von den Unterschieden im Wesen der Menschen, und zwar deshalb, weil „das Objekt dieser Wissenschaft, der Charakter, seiner Existenz nach selbst problematisch ist“.  Weininger definiert den Charakter zutreffend als „nicht etwas hinter dem Denken und Fühlen des Individuums Thronendes, sondern etwas, das sich in jedem Gedanken und jedem Gefühle desselben offenbart“.  Der theoretische sowie besonders auch der praktische Wert einer Charakterologie wäre sehr groß.  Wie viele philosophische und ästhetische Kontroversen würden nicht durch die Erkenntnis nutzlos werden, daß verschieden geartete Menschen die Welt verschieden ansehen müssen, daß das psychische Grundverhältnis Mensch – Welt nicht nur von der Beschaffenheit des allen gemeinsam gegebenen, unveränderlichen zweiten Faktors, sondern viel mehr noch von der subjektiv schwankenden Größe Mensch abhängig ist.  So wäre, nebenbei bemerkt, das Weltproblem, soweit es auf subjektiven Wertungen basiert (als Philosophie des Individuums), als Quotient einer Konstanten durch eine Variable aufzufassen. und die „Weltanschauung“ des einzelnen je nach dem Grade unserer Kenntnis von seinem Typus, also je nach dem Stand der Charakterologie bestimmbar (wobei allerdings über den Typus hinaus ein prinzipiell unauflöslicher Rest in jedem Menschen zurückbliebe).

    Ich will jetzt, abgesehen von Weiningers Buch, das Problem der Charakterologie, das mir eines der wichtigsten für die Psychologie der Zukunft zu sein scheint, selbständig kurz skizzieren. Die Definition der Seele, die für die Psychologie und speziell für die Charakterologie am brauchbarsten ist, dürfte die von J. F. Schmidt sein: „Seele überhaupt ist das Gesetz der Bewußtseinsindividualisierung; die einzelne Seele ist nur ein konkreter Fall dieses Gesetzes“ (op. cit.  S. 200). Wenn man die Seele rein formal als ein Gesetz, ein „funktionales Verknüpfungsgesetz“, faßt[7]), so ist es für die Grundlegung der allgemeinen Psychologie notwendig, diejenigen Bestandstücke aufzusuchen, die den Begriff des Subjektes gesetzmäßig konstituieren. Auf dieser Grundlage müßte die empirische Scheidung des Gegenstandes der Psychologie (a) Tier, b) Mensch) erfolgen, die sich wieder weiter in Psychologie der Tier-Arten und Psychologie der Menschen-Arten spaltete. Aufgabe der differenziellen menschlichen Psychologie (Typologie oder Charakterologie) ist es also, die Differenzierung des allgemeinen menschlichen Seelenbegriffes nach einem wohlbegründeten Prinzip vorzunehmen.  Das Prinzip kann aphoristisch der Erfahrung entnommen werden, oder derart gewählt sein, daß es aus dem allgemeinen Seelengesetz mit einer Notwendigkeit, die konstitutiv darin begründet liegt, hervorgeht.  Nur letztere Methode wäre natürlich wissenschaftlich im eigentlichen Sinn.

    Die Einteilungsmethoden, die ihren Leitfaden der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen entnehmen, sind notwendig willkürlich; sie können den intellektuellen (gedanklich – anschaulich), den emotionellen (liebend – hassend – kalt) oder einen ähnlichen Gesichtspunkt wählen. Wesentlich auf emotioneller Basis steht auch die alte Lehre von den vier Temperamenten, zu der Kant nicht viel Neues hinzugefügt und die Bahnsen noch womöglich verschlechtert hat; ebenso die von Ribot (Psychologie des sentiments, 1903, chap. 12), während andere (Bain 1861, Fouillée 1895) die alte psychologische Vermögenstheorie anwenden.

    Ein besserer, weil systematischerer Gedanke ist es, von vornherein nicht von der Vielheit der wirklichen Menschen auszugehen, sondern a priori (nämlich vor aller Differenzierung, aber nach Setzung der menschlichen Psyche überhaupt) das Verhältnis des Typus zu einer allgemeinen Funktion als grundlegend zu betrachten.  Wenn sich ein solcher rein formaler Einteilungsmodus begründen läßt, so ist er natürlich von der höchsten Allgemeingültigkeit, er bezöge sich auf jeden „überhaupt möglichen“ Menschen, während ja z. B. die vier Temperamente noch ein fünftes zuließen.  Ein solcher Versuch ist in neuester Zeit von Oskar Ewald angestellt worden, der die Menschen an ihrer Relation zur Zeit in historische und elementäre scheidet („Nietzsches Lehre in ihren Grundbegriffen“, Berlin 1903, S. 100 ff.). Ohne hier eine Kritik dieser Theorie zu geben, will ich nur bemerken, daß sie mit Weiningers Methode der sexuellen Typologie die formale Übereinstimmung zeigt, den wirklichen Menschen aus zwei Extremen zusammenzusetzen.  Diese Konstruktion von Typen im Sinne der Platonischen Ideen ist ja wie für jede Wissenschaft, so auch für die Charakterologie zu fordern.

    Weiningers Methode hat zwei Quellen: die einpirisch-psychologische, die die Bruchstücke der Erscheinungswelt zum Typus, und zwar zum Typus Mann und Weib zusammenschaut, die Erfahrung am logischen Begriff reinigt; und die deduktive, die später auftritt, die beide gewonnene Typen an einer allgemeinsten Funktion (wie oben gesagt) mißt.  Weininger hat die für alles Menschliche letzte Funktion, den Wert, hier als maßgebende Instanz eingeführt.  Die Menschen, die in einem Verhältnis zum absoluten Wert (den er formal als zeitloses, logisches Sein faßt), in einem positiven oder negativen Verhältnis dazu stehen (M), und die, denen dieses Verhältnis fehlt (W). Der Gedanke ist grundlegend zu nennen; aber er leidet an dem methodischen Übelstand, daß. der Begriff des absoluten Seins (meinem Dafürhalten nach ganz überflüssigerweise) die Theorie der Metaphysik annähert und so manchen abhält, an die Sache heranzutreten.

    Das Bewußtsein des ethischen Wertes ist zweifellos das tiefste, was im Menschen gefunden werden kann, und vom letzten menschlichen muß das Einteilungsprinzip entnommen werden, um zwingend zu sein.  Auf Einzelheiten komme ich später zurück.  Zur Veranschaulichung der Methode, die aus der Zusammensetzung zweier extremer Typen die Wirklichkeit zu erreichen strebt, will ich aber eine historische Analogie aus der Architektur geben.  Man kann alle Baustile aus zwei Extremen komponiert denken (vom skulpturalen sehe ich ab): aus dem horizontalen Stil, der in der griechischen, und aus dem vertikalen Stil, der in der gotischen Baukunst eine annähernde Verkörperung gefunden hat.  Nur sie besitzen in ihrer niedrigen Gedrängtheit einerseits, in ihrer himmelstrebenden Leichtigkeit anderseits, vollendete struktive Eigenart, und nur sie scheinen die höchste ästhetische Befriedigung auszulösen.  Die anderen Stile lassen sich als Mischformen, als architektonische „Zwischenstufen“ auffassen.  Der gotische Turm ist seiner Idee nach der vollkommenste Gegensatz zu allem Griechentum, die massige Cella aus Quadern ganz antigotisch.  Die Zwischenformen neigen nach dem einen oder dem anderen Extrem hin.  Und im Pflanzenreich hat Goethes Auge das „entschieden-männliche“ vertikalstrebende und das „entschieden weibliche“ spiralstrebende System gesehen („Über die Spiraltendenz der Vegetation“).

 

 

 

3. Die sexuellen Typen

 

    Die psychologische Wissenschaft ist von Männern gemacht worden und war immer, ohne daß man sich hierüber Rechenschaft gelegt hätte, Psychologie des Mannes. Da Frauen erfahrungsmäßig über sich nichts Wesentliches mitzuteilen wissen, so bleibt man bei dem Unternehmen einer weiblichen Psychologie hauptsächlich auf das im Manne angewiesen, was Weibliches in ihm vorhanden ist: das Bestehen der sexuellen Zwischenformen ist also die Voraussetzung für eine Psychologie der Frau.  Weininger stellt nun die Frage nach den psychologischen Unterschieden zwischen Mann und Weib. Es handelt sich ihm hierbei nicht um die psychologische Beschreibung der Männer und Frauen, denen wir täglich begegnen, sondern um die Aufsuchung des psychologischen Einheitsgesetzes, das den reinen Mann-Typus (M) und den reinen Weib-Typus (W) konstituiert.  Da ich die Typen-Psychologie für eine wichtige Sache halte, will ich sie noch weiter darlegen.  Man kann die Typen auffassen als eine Anwendung der Kantischen Vernunftbegriffe auf das Gebiet der Psychologie.  „Dergleichen Vernunftbegriffe werden nicht aus der Natur geschöpft, vielmehr befragen wir die Natur nach diesen Ideen und halten unsere Erkenntnis für mangelhaft, solange sie denselben nicht adäquat ist.  Man gesteht: daß sich schwerlich reine Erde, reines Wasser, reine Luft etc. finde.  Gleichwohl hat man die Begriffe davon doch nötig (die also, was die völlige Reinigkeit betrifft, nur in der Vernunft ihren Ursprung haben), um den Anteil, den jede dieser Naturursachen an der Erscheinung hat, gehörig zu bestimmen“ (Kr. d. r. V., Kehrbach, S. 504).  Diese Begriffe dienen nur zum „regulativen Gebrauche“, d. h. sie sind ein Leitfaden, eine Methode, die Wirklichkeit konsequent in einer Richtung bis zu Ende zu denken.  So ist alle Wissenschaft Theorie der Ideen (im Sinne Platons).  In jedem einzelnen Naturgegenstand sind alle Gesetze der Physik darin.  Der Bleistift auf dem Tisch kann unter einer regulativen Idee aus dem Gebiete der Mechanik, der Optik, der Elektrizitätslehre, des Magnetismus, der Chemie, der Mineralogie etc. betrachtet werden, und daß man aus einem Erscheinungskomplex mechanische Gesetze zu abstrahieren vermag, ist nur möglich, weil sie vorgedacht, ideell postuliert worden sind.  So ist's mit der Charakterologie.  Der einzelne Mensch ist ein Ganzes, das nach seiner Muskelstärke, nach seiner ästhetischen Feinfühligkeit, nach seiner Religiosität etc. betrachtet werden kann.  Die Theorie von den vier Temperamenten ist nicht falsch, aber unvorteilhaft; sie führt nicht weit.  Weiningers Formeln von M und W wirren die Vielheit der Erscheinungen weit auf und sind so der elektromagnetischen Theorie Maxwells zu vergleichen, die alle anderen wegen ihrer größeren „Ökonomie“ und Einheitlichkeit besiegt hat.  Ich habe aber bisher nur von ihrem formalen Bau, nicht vom Inhalte gesprochen.

    Der wesentlichste Einwand, der gegen Weininger überhaupt und besonders gegen seine sexuelle Psychologie erhoben wurde, ist der, er habe es nicht hinlänglich einleuchtend gemacht, daß dem Typus M auch wirklich alle die guten Qualitäten, dem Typus W die schlechten beizulegen seien.  Da ja beide nicht in der Wirklichkeit vorkämen, sondern nur theoretische Gebilde wären, so sei es zumindest willkürlich, wenn nicht falsch, das auf die wirklichen Männer und Frauen zu übertragen, was seine Typen konstituieren solle.  Ich glaube, daß dieser Einwand, dem ich an sich einige Berechtigung zuerkenne, der erste Einwand gegen alle Psychologie, nur in verkleideter und spezifizierter Form ist: Wie kann man Beobachtungen beweisen?  Die Typen M und W bestehen ja nur aus allen den Elementen, die sich bei den wirklichen Männern und Frauen vorfinden.  Die Eigenschaften der Frauen, die im Manne nur in geringer Stärke vorhanden sind, bei körperlich sehr typischen Männern zum Teil fehlen, das sind die spezifisch weiblichen Eigenschaften.  In unsystematischer Weise sind sie schon öfters von Künstlern und Denkern erkannt worden, aber sie alle zusammenzufassen und in einen Typus zu schmieden, das war die Leistung Weiningers.  Ob ihm die Zusammenfassung ganz geglückt ist, ob er nicht manches übersehen, anderes mit aufgenommen hat, was vielleicht gar nicht typisch sein mag, ist eine zweite Frage.  Aber die Konstruktion des Typus, des Kanons, ist für die Charakterologie grundlegend.  Die Beschreibung der Wirklichkeit gibt allenfalls ein Charakterbild oder eine Novelle, aber nie eine Theorie.  Die Gebilde der Kristallographie werden von dieser Wissenschaft erzeugt, und nur soweit sich der wirkliche Kristall mit ihnen deckt, ist er z. B. als Oktaeder anzusehen.  In der Natur kommt noch viel seltener ein reines M oder W vor als ein reiner Oktaeder oder Dodekaeder.  Hat Weininger Fehler gemacht, so müssen sie eben verbessert werden.

    Ich gehe zur Darstellung der Typen über.  Was im Bewußtsein der Frau vorgeht, ist viel unklarer, verworrener als bei M. Die psychischen Inhalte sind beiden gemeinsam, aber der Mann hat in gegliederten Vorstellungen das, was bei der Frau im Vorstadium, im Henidenstadium geblieben ist.  Denken und Fühlen sind hier eine ungesonderte Einheit, beim Mann können sie auseinandergehalten werden.  Wie die seelischen Data bei M schärfer und gegliederter sind als bei W, so sind bei ihm Körper und Gesichtszüge entschiedener, seine Sinne feiner, seine Schmerzempfindlichkeit größer, weil klarer bewußt.  Der Urteilsakt „setzt eine gewisse Entfernung vom Henidenstadium voraus“, und ist daher spezifisch männlich; W erwartet „die Klärung ihrer dunklen Vorstellungen, die Deutung ihrer Heniden“ von M. Die Klarheit im Denken, die die Frau vom Manne fordert, wirkt als ein (tertiärer) männlicher Geschlechtscharakter auf sie.  Jedes Element in W ist auf M angewiesen, um klar zu werden; gleich dem Mond, der sie beherrscht, muß W fremdes Licht borgen, daß es aus dem Dunkel tappe.  An sich ist W immer und durchaus sexuell, „W geht im Geschlechtsleben, in der Sphäre der Begattung und Fortpflanzung, d. i. im Verhältnis zum Mann und Kind vollständig auf, sie wird von diesen Dingen in ihrer Existenz vollkommen ausgefüllt, während M nicht nur sexuell ist“.  „W ist nichts als Sexualität, M ist sexuell und noch etwas darüber." Was W tut, denkt, fühlt, hat Bezug auf das Geschlechtsleben, von der frühesten Jugend an ist dies das ens entium der Mädchen, während der Knabe es als Fremdes, als Störendes empfindet, und überhaupt erst zur Zeit der Pubertät notgedrungen davon Notiz nimmt.  Das Weib ist fortwährend sexuell, alle Teile seines Körpers sind sexuell, und daher ist es auch von allen Teilen sexuell erregbar.  Der Mann ist nur intermittierend, sexuell, seine Geschlechtlichkeit ist im Körper eng lokalisiert, sie füllt ihn nicht aus, er kann sich eruptiv von ihr befreien und kennt noch anderes im Leben und Sinnen.  Daß dem so ist, darüber kann sich die Frau nie klar werden, weil man nur etwas verstehen kann, was man sich gegenüberzustellen vermag, was einem Objekt werden kann.  W ist aber „nichts als Sexualität, ist die Sexualität selbst“.  Im Mann ist Sexuelles und Asexuelles vorhanden, eines kann am anderen bewußt werden, er kann sich darüber Rechenschaft legen, er kann beides zur psychischen Abhebung bringen.  „Ethisch betrachtet kulminiert das Weib in der Prokreation.  Deshalb sagt die Schrift, daß nach dem Manne sein Verlangen stehen soll.  Wohl steht auch des Mannes Verlangen nach ihm, aber sein Leben kulminiert nicht in diesem Verlangen, es sei denn Torheit und Verlorenheit.  Dies aber, daß das Weib hierin kulminiert, beweist genau, daß es sinnlicher ist“, sagt Sören Kierkegaard. Ich werde diesen Geist ersten Ranges, mit dem mir Weininger so viel Ähnlichkeit im Denken und Leben zu haben scheint, wie mit keinem anderen historischen Menschen, noch öfters heranziehen.  Vielleicht wird eine Zeit, die diesem Phänomen nicht mehr so fremd gegenübersteht wie unsere (oder täusche ich mich da?), auch Weininger besser begreifen.[8]) Ich will gleich die Gelegenheit zu einem anderen Zitat benützen, das sich auf die Methode der Psychologie bezieht: „Wer sich im höheren Stil mit Psychologie und psychologischer Beobachtung beschäftigt hat, der hat sich eine allgemein menschliche Geschmeidigkeit erworben, die ihn in den Stand setzt, sich stracks seine Beispiele zu bilden, und diese haben dann eine ganz andere Beweiskraft, obschon sie das Ansehen der Faktizität nicht besitzen.“ „Hat er sich darin vervollkommnet, so braucht er seine Beispiele nicht aus einem literarischen Repertorium hervorzusuchen und abgestandene Reminiszenzen aufzuwärmen; er bringt seine Beobachtungen frisch aus dem Leben gepflückt, noch glänzend und sprühend in ihrem reichen Farbenspiel“, usw.  Dies und noch viel mehr ist wie auf die Art gemünzt, mit der Weininger Menschen beobachtete.  Sein Blick drang sehr tief hinab.  Ich habe mich öfters von der wörtlichen Richtigkeit seiner Angabe überzeugt, er könne jedem Menschen sein sexuelles Komplement beschreiben.  Die Aussagen, die er über Personen zu machen wußte, die er nur kurz gesprochen oder nur gesehen hatte, waren merkwürdig sicher; aber zweifellos hatte er es mehr seiner außerordentlichen Anlage für das Verständnis alles Menschlichen als seiner Theorie zu danken, wenn er dies vermochte.  Ich habe ihn, öfters erprobt und in Versuchung geführt, aber stets mußte ich über sein schnelles Urteil und über seinen sicheren Blick staunen.

    Die Polarität in der Welt, bekanntlich einer der Hauptgedanken aller Naturphilosophie, findet sicherlich nirgends einen so wahren Ausdruck wie im Menschen. Doch muß man sich darüber klar sein, daß eine rein quantitative Mischung der Elemente nicht zureichte, sich das einzelne wirkliche Individuum verständlich zu machen.  Es ist eine vollständige Durchdringung anzunehmen, worin beide Extreme in modifizierter Form geeint sind, und es darf nicht vergessen werden, daß die Extreme zu theoretischen Zwecken erdacht wurden.  Ich gehe vielleicht über den Text Weiningers hinaus, jedenfalls nicht über seine Meinung, wenn ich die charakterelle Wirklichkeit aus einer qualitativen Synthese zusammengesetzt denke.  Wie im Menschen nicht Intellekt, Gefühl und Wille nach der Annahme der alten Psychologie als besondere „Seelenvermögen“ vorhanden sind (obwohl diese Hypothese zu mancher guten Erkenntnis geführt hat), sondern nur eine einheitliche, organisch gewachsene Psyche existiert, so sind die Elemente M und W im Individuum nicht gemengt, sondern zu einem durchaus unlösbaren Ganzen legiert, jedes von ihnen in der Verbindung chemisch verändert, und die Angabe des Gehaltes an M und W erschöpft dieses Verhältnis nicht, sie gibt nur einen Anhaltspunkt über das Wieviel? nicht über das Wie?  Das, Genie z. B. ist nicht (nach dem späteren) nur höchstgesteigerte Männlichkeit, sondern es enthält auch W-Elemente, aber in überwundener, nicht aktueller Form.  So ist anzunehmen, daß die Quantität der in die Verbindung eingegangenen Elemente bei zwei Menschen gleich sein könne, die Art der Verbindung aber verschieden.  Weininger meint etwas ganz ähnliches mit den Worten: „Trotz allen sexuellen Zwischenformen ist der Mensch am Ende doch eines von beiden, entweder Mann oder Weib.“

    Ich fahre in der Beschreibung der Typen M und W fort; da aber Weininger (in den Kapiteln 4 bis 8 des zweiten Teiles) seine Stellung zu den Problemen der Logik und Ethik begründet, seine Analyse des Genies gegeben und im engen Anschluß an Kant und, Fichte die Existenz des intelligiblen Ich angenommen hat, was ich alles erst später berühren kann, so muß ich die damit gewonnenen Begriffe etwas sprunghaft einstweilen voraussetzen, ohne sie analysiert zu haben. Für Weininger liegt im Postulat der höchsten Bewußtheit die Idee des Menschen, die sich im Genius rein ausspricht und in der höchsten und einzigen Pflicht, der zur Wahrheit, ihren Ausdruck findet. Hier treffen die Postulate der Logik und der Ethik, die Imperative des wahren Denkens und des reinen Handelns zusammen.  Die Lehre vom Menschen als Mikrokosmos, als, Welt im Ich, tritt hinzu.

    Die logischen und ethischen Phänomene, die den Menschen von allen übrigen Wesen unterscheiden, mangeln W, es kennt nicht die Funktion des Postulates, d. h. das imperativische Wollen des Wahren (logisches Postulat) und des Guten (ethisches Postulat), und so entfällt die Notwendigkeit, die sich für M herausgestellt hat, die Annahme des transszendentalen Subjektes, der Seele, auf W auszudehnen.  Weiningers Hypothese vom intelligiblen Ich werde ich an ihrem Ort besprechen.  Der Gedanke von der Seelenlosigkeit der Frau ist dem germanischen Mythus seit je geläufig gewesen. Fouqués berühmte Undine, lbsens Frau vom Meere, Strindbergs Fräulein Julie sind neuere Gestaltung dieses Glaubens.  „Undine, die seelenlose Undine, ist die platonische Idee des Weibes.  Trotz aller Bisexüalität kommt ihr die Wirklichkeit meist sehr nahe.“ Der Mann kann alles werden, er hat teil an der ganzen Welt und steht in Beziehung selbst zum „bestirnten Himmel“ – er kann auch zum Weib werden.[9]) Aber die Frau kann nie Mann werden.  Ein weiblicher Genius gar ist ein Ungedanke, denn Genialität ist ja nur gesteigerte, voll entfaltete, höhere, allgemein bewußte Männlichkeit.  Der geniale Mensch hat, wie alles, auch das Weib in sich; aber das Weib selbst ist nur ein Teil im Weltall, und der Teil kann nie das Ganze in sich schließen.  Das Weib erkennt nicht die Pflicht zur Wahrheit an, es kann nicht einem höheren Selbst Treue wahren.  Die Fähigkeit zur Wahrheit entstammt aber dem Willen zur Wahrheit, und so hat kein Weib wirkliches Interesse für Wissenschaft; die Wahrheit wird ihm Mittel für andere Zwecke, und „cherchez l'homme“ gilt viel allgemeiner für die Frauen als „cherchez la femme“ für die Männer.  Dem Mann, der sich als Ich fühlt, der sich von allem Nicht-Ich scharf geschieden weiß, sieht Grenzen und kennt Ehrfurcht vor dem fremden Ich; ihm wird Einsamkeit und Gesellschaft immer irgendwie Problem.  Die Frau ist nie einsam, auch nicht, wenn sie allein ist; sie lebt in einem Zustande der Verschmolzenheit mit allen Menschen, die sie kennt.  Diese Verschmolzenheit ist etwas durchaus Sexuelles, und daher äußert sich alles weibliche Mitleid in körperlicher Annäherung an das bemitleidete Wesen, es ist tierische Zärtlichkeit, sie muß streicheln und trösten.  Der harte Strich, der Persönlichkeiten scheidet, fehlt da; weint einer, so weint sie mit, lacht wer, so lacht sie mit, sie ist wesentlich funktional verknüpft.  Es gibt keine Gesellschaft ohne Gerechtigkeit, und für diese Tugend, die in der Anwendung der Idee der Wahrheit auf das Praktische besteht, in der sich Logik und Ethik durchdringen, hat W kein Verständnis.  So ist W unsozial, und es muß so sein, denn nur Wesen mit bewußter Persönlichkeit haben Sinn für Recht und Staat, achten und schätzen die Person des anderen.  Wie sich alles Staatenwesen, diese Vorbedingung zur Kultur, nicht aus dem sexuellen Familienverbande, sondern aus dem Männerbund entwickelte, hat kürzlich Heinrich Schurtz („Altersklassen und Männerbünde“, 1902) an reichem ethnologischem Material nachgewiesen.  Mit der senilen Rückbildung der Frau erlischt auch die Fähigkeit zu geistiger Anspannung, die ja bei ihr nur im Gefolge sexueller Zwecke auftrat und diesen dienstbar gemacht wurde.  Der Mann wird nie in dem Sinne völlig alt wie das Weib, und es ist die geistige Rückbildung hier durchaus nicht notwendig, sondern nur in einzelnen Fällen mit der körperlichen verknüpft.

    W ist seelenlos.  Dieses Resultat ist für die Psychologie von großer methodischer Wichtigkeit, denn die Psychologie von M und von W muß getrennt behandelt werden. Für W scheint eine rein empirische Darstellung des psychischen Lebens möglich, für M muß jede Psychologie nach dem Ich als dem obersten Giebel des Gebäudes in der Weise tendieren, wie Kant dies als notwendig eingesehen hat.  Die moderne „Psychologie ohne Seele“ ist eine eminent weibliche Psychologie.  Weininger kommt so zu dem konsequenten Resultat, daß eine Psychologie im bisherigen Sinne nur von der Frau, nicht aber vom Manne möglich sei, man wollte sich denn, mit dem dürftigen Ergebnis der Assoziationsmechanik und der Psychophysik begnügen.  „Im Wesen aller Psychologie liegt es, das Unableitbare ableiten zu wollen, ihr endliches Ziel müßte, deutlicher gesprochen, dieses sein, jedem Menschen seine Existenz und Essenz zu deduzieren.  Dann wäre aber jeder Mensch, auch seinem tiefsten Wesen nach, Folge eines Grundes, determiniert.“ „Im Augenblick, wo ich völlig deduziert, völlig subsumiert werden könnte, hätte ich allen Wert verloren, und wäre eben seelenlos.  Mit der Freiheit des Wollens wie des Denkens ist die Annahme der durchgängigen Bestimmtheit unverträglich, mit welcher alle Psychologie ihr Geschäft beginnt.  Wer darum an ein freies Subjekt glaubte, wie Kant und Schopenhauer, der mußte die Möglichkeit der Psychologie als Wissenschaft leugnen.“ –

    Ich habe aus dem Kapitel „Männliche und weibliche Psychologie“, das überreich ist an guten Beobachtungen und tiefen Einsichten, einen kurzen Auszug gegeben.  Wo Weininger beobachtet und verallgemeinert, hat er meines Erachtens fast durchaus das Richtige getroffen, aber ins Bereich der Lehre vom absoluten Ich kann ich ihm nicht folgen.  Wenn ich ihm auch die Konsequenz von der Seelenlosigkeit von W zugestehe, so genügen mir doch die Beweise für die Seele von M nicht.  Weininger hat die transszendentale Formulierung Kants ontologisiert (wenn dieser Ausdruck erlaubt ist) und dort, wo ein Postulat bestehen mag: forsche und handle nach der regulativen Idee des allgemein gültigen intelligiblen Seins, eine wirkliche Monade gesetzt.  Die Seele hat vielleicht eine Stelle in der normierenden Wissenschaft, aber keine in der Disziplin, die vorhandene Gegenstände untersucht. Übrigens gehört Weiningers Theorie vom intelligiblen Ich der Metaphysik an und soll uns da noch beschäftigen.

    Aber seine Forderung, daß die Psychologie des Mannes und die Psychologie der Frau gesondert zu behandeln seien, ist sicherlich von höchster Bedeutung; dies und die argen Kalamitäten, die der modernen Seelenkunde aus dem Willen erstehen, aus der Apperzeption und noch aus einigem anderen: Dingen, die nicht empirisch faßbar, aber doch – den empirischen Psychologen zum schweren Kummer – auch nicht eliminierbar sind, diese Mißlichkeiten sollten allerdings eine Revision der Hauptpunkte der modernen Psychologie veranlassen.  „Ein je besserer Psychologe einer ist, desto langweiliger werden ihm diese heutigen Psychologien.  Denn sie steifen sich samt und sonders darauf, die Einheit, die alles psychische Geschehen erst begründet, bis zum Schluß zu ignorieren: allwo wir dann regelmäßig noch durch einen letzten Abschnitt unangenehm überrascht werden, der von der Entwicklung einer harmonischen Persönlichkeit handelt.“ Jeder, der aus Büchern „Psychologie“ studiert hat, wird hier Weininger recht geben.

    Die zwei Arten von Psychologie, die Weininger fordert, würden etwa in folgender Richtung liegen: für W ist die moderne Psychophysik die geeignete Methode; hier ist wirklich das Psychische so sehr Resultat des Physischen, wie es der Parallelismus will, und Weininger nennt auch „die heutige Psychologie eine eminent weibliche Psychologie“. (Zweifellos ist es kein Zufall, daß sie mit der modernen feministischen Stimmungskunst fast gleichzeitig aufgetreten ist; ja die Psychologie, die aus einem Mosaik von Empfindungen besteht, hat eine starke Verwandtschaft mit der Lyrik, die in Impressionen schwimmt.  Beiden fehlt das geistige Band.[10]) Für M aber denkt Weininger im Anschluß an Kant an eine transszendentale Psychologie, der die Idee der Psyche „von Anfang an als Führer beim Aufsteigen in der Reihe der Bedingungen bis zum Unbedingten zu dienen habe“.  Diese Psychologie müßte „theoretische Biographie“ werden.  Eine solche Wissenschaft hätte den gesamten gesetzmäßigen geistigen Lebensverlauf als Ganzes darzulegen, ihre Aufgabe wäre „die Erforschung gleichbleibender Gesetze der geistigen Entwicklung des Individuums“.

 

 

4. Spezielle Psychologie von W

 

  Nachdem W als allgemeinster Typus dargestellt wurde, geht Weininger daran, diesen Typus in die zwei Äste zu spalten, die am polarsten auseinandertreten.  Es sind mehrere Einteilungen der Frauen möglich, aber die von Weininger vorgenommene in Mütter und Dirnen ist am erschöpfendsten.  Eine gewaltige Intuition war hier am Werke; sie hat allerdings Resultate zutage gefördert, die den meisten nicht genehm zu hören sind.  Ich bediene mich im folgenden fast durchaus der eigenen Worte Weiningers, die kaum verbessert werden könnten.

  Allem Schlechten und Garstigen, das den Frauen nachgesagt wurde, wird das Weib als Mutter entgegengehalten werden; seine Ergründung ist daher notwendig, und an dem diametral entgegengesetzten Pol der mütterlichen Frau, der Frau als Dirne, wird beider Wesenheit klar werden.  Daß Mutterschaft und Prostitution einander polar entgegengesetzt sind, ergibt sich mit großer Wahrscheinlichkeit allein schon aus der größeren Kinderzahl der guten Hausmütter, indes die Kokotte immer nur wenige Kinder hat, und die Gassendirne in der Mehrzahl der Fälle überhaupt steril ist. Es ist wohl zu beachten, daß nicht das käufliche Mädchen allein dem Dirnentypus angehört, sondern sehr viele unter den sogenannten anständigen Mädchen und verheirateten Frauen, ja selbst solche, die gar nie die Ehe brechen, nicht, weil die Gelegenheit nicht günstig genu ist, sondern weil sie selbst es nicht bis dahin kommen lassen.  Die Ansicht, die alle Prostitution auf ökonomische Motive zurückführen will, ist zweifellos zu oberflächlich, um eine Widerlegung herauszufordern; diese Tatsache ist uralt und bei manchen Völkern des Altertums Bestandteil des religiösen Kultes gewesen.  Der Mann trägt sicherlich oft die Schuld am wirtschaftlichen Elend der Frauen, daß aber in solchen Fällen zu etwas gegriffen werden kann, wie es die Prostitution ist, muß in der Natur des menschlichen Weibes selbst liegen.  Was nicht ist, kann auch nicht werden.  Dem echten Mann, den materiell noch öfter ein widriges Schicksal trifft als das Weib, ist gleichwohl die Prostitution fremd, und männliche Prostituierte sind immer vorgerückte sexuelle Zwischenformen (was die große Fachliteratur erhärtet).  Zwischen den zwei angeborenen entgegengesetzten Veranlagungen, zwischen absoluter Mutter und absoluter Dirne liegt die Wirklichkeit.

    Das Wesen der Mutterschaft besteht darin, daß die Erreichung des Kindes der Hauptzweck im Leben der Mutter ist, indessen bei der Dirne dieser Zweck wegfällt; ihr liegt nur am Mann, am sexuellen Verkehr.  Prüfstein ist am sichersten das Verhältnis zur Tochter: nur wenn sie diese gar nicht beneidet wegen größerer Jugend oder Schönheit, ihr nie die Bewunderung der Männer im geringsten mißgönnt, sondern sich vollständig mit ihr identifiziert und des Verehrers ihrer Tochter sich so freut, als wäre er ihr eigener Anbeter, nur dann ist sie Mutter zu nennen.  Die absolute Mutter wird Mutter durch jeden Mann, sie ist nicht wählerisch im sexuellen Komplement, und ist sie Mutter, so bekümmert sie sich, im Idealfall, um keinen anderen Mann mehr.  Der absoluten Dirne sind Kinder ein Greuel, sie will allen Männern gefallen.  Hier zeigt sich zwischen den Extremtypen eine formale Ähnlichkeit: beide sind in der Wahl anspruchslos, die Mutter will ein Kind, gleichgültig von wem, die Dirne will den Mann, gleichgültig welchen.  Das Verhältnis der echten Mutter zu ihren Kindern ist ein rein sexuelles, sie liebt sie als Teile des eigenen Leibes, die sich von ihr gelöst haben und selbständig leben.  Wenn eine Frau mütterlich ist, muß ihre Mütterlichkeit nicht nur dem leiblichen Kinde gegenüber sich offenbaren, sondern auch schon vorher und jedem Menschen gegenüber zum Ausdruck kommen; wenngleich das Interesse für das eigene Kind später alles andere absorbiert und die Mutter im Fall eines Konfliktes engherzig und ungerecht macht.  Schon das liebende Mädchen ist gewissermaßen Mutter des Geliebten.  In diesem Zuge, der Mutter und liebender Frau gemeinsam ist, offenbart sich uns das tiefste Wesen dieses Weibestypus: es ist der fortlaufende Wurzelstock der Gattung, den die Mütter bilden, das nie endende, mit dem Boden verwachsene Rhizom, von dem sich der einzelne Mann als Individuum abhebt und dem gegenüber er seiner Vergänglichkeit inne wird.  Dieser Gedanke ist es, mehr oder, weniger bewußt, der den Mann selbst das mütterliche Einzelwesen, auch schon als Mädchen, in einer gewissen Ewigkeit erblicken läßt, der das schwangere Weib zu einer großen Idee macht (Zola).  Die ungeheure Sicherheit der Gattung, aber freilich sonst nichts, liegt in dem Schweigen dieser Geschöpfe, vor dem sich der Mann für Augenblicke sogar klein fühlen kann.  Ein gewisser Friede, eine große Ruhe mag in solchen Minuten über ihn kommen, ein Schweigen aller höheren und tieferen Sehnsucht.  Wird er doch beim geliebten Weib dann ebenfalls zum Kinde.  Die Sicherheit der Gattung ist es, die die Mutter mutig macht im Gegensatz zur stets feigen und furchtsamen Prostituierten.  Es ist nicht der Mut der Individualität, der moralische Mut, der aus der Werthaltung der Wahrheit und Unbeugsamkeit des innerlich Freien folgt, sondern der Lebenswille der Gattung, welche durch die Einzelperson der Mutter das Kind und selbst den Mann schützt.  Die Mutter steht ganz unter dem Gattungszweck, die Prostituierte steht außerhalb desselben.  Die Mutterliebe ist Instinkt; sie ist sexuell und nicht anders: es gibt aber keine triebhafte, sondern nur bewußte Sittlichkeit.  Die Individualität des Kindes ist der Mutter ganz gleichgültig, ihr genügt die bloße Tatsache der Kindschaft: und dies ist eben das Unsittliche an ihr.  In jeder anderen Liebe kommt es auf ein bestimmtes Wesen an, das nie durch ein anderes zu ersetzen ist; nur die Mutterliebe erstreckt sich wahllos auf alles, was die Mutter je in ihrem Schoße getragen hat.  Es ist ein grausames Geständnis, das man sich macht, grausam gegen Mutter und Kind, daß gerade hierin sich offenbart, wie vollkommen unethisch die Mutterliebe eigentlich ist, jene Liebe, die ganz gleich fortwährt, ob der Sohn ein Heiliger wird oder ein Verbrecher; sie ist kein Verhältnis zum fremden Ich, sondern ein Verwachsensein von Anfang an: sie ist, wie alle Unsittlichkeit gegen andere, eine Grenzüberschreitung; ein ethisches Verhältnis gibt es nur von Individualität zu Individualität.  Aber eine nie unterbrochene Leitung zwischen der Mutter und allem, was je durch eine Nabelschnur mit ihr verbunden war: das ist das Wesen der Mutterschaft.[11])

    Der Mann vergilt der Mutter ihre Dienste um die Gattung durch die moralische und soziale Erhebung über die Prostituierte. Diese ist das Weib, das sich den Wertungen des Mannes und dem von ihm bei der Frau gesuchten Keuschheitsideale nie gefügt, sondern stets widersetzt hat.  Hieraus allein erklärt sich die Sonderposition, die Stellung außer aller sozialen Achtung, die die Prostituierte heute fast überall einnimmt.  Die Mutter hatte es leicht, sich dem sittlichen Willen des Mannes zu unterwerfen, da es ihr nur auf das Kind, auf das Leben der Gattung ankam.  Als Hüterin der Familie genießt die Mutter eine gewisse Ehre; die Dirne hat auf alles soziale Ansehen verzichtet, aber sie giert nach Macht, die Männer sollen vor ihr Im Staub liegen, sie ist die „maîtresse“.  Hier bildet sie das Analogon zum großen Eroberer auf politischem Gebiet. Jeder solche Mann zeigt eine gewisse Verwandtschaft zur Prostituierten; er glaubt wie sie jeden Menschen, mit dem er spricht, zu beglücken. Napoleon, die größte Erscheinung unter allen, beweist auch am deutlichsten, daß die „großen Willensmenschen“ Verbrecher und demnach keine Genies sind.  Ihn kann man nicht anders verstehen als aus der ungeheuren Intensität, mit der er sich selbst floh: nur so ist alle Eroberung, im großen wie im kleinen, zu erklären. Über sich selbst mochte Napoleon nie nachdenken, nicht eine Stunde durfte er ohne große äußere Dinge bleiben, die ihn ganz ausfallen sollten: darum mußte er die Welt erobern.  Der große Mensch hat Grenzen, denn er ist die Monade der Monaden, und gleichzeitig der bewußte Mikrokosmos, er hat die ganze Welt in sich, er bedarf zwar der Erlebnisse, aber nicht der Induktion.  Der große Tribun und die große Hetäre sind die absolut grenzenlosen Menschen, die die ganze Welt zur Dekoration und Erhöhung ihres empirischen Ich gebrauchen.  Darum sind beide jeder Liebe, Neigung und Freundschaft unfähig, lieblos, liebeleer.  Es gibt keinen Politiker, keinen Feldherrn, der nicht „hinabstiege“.  Seine Hinabstiege sind ja berühmt, sie sind seine Sexualakte!  Auch zum richtigen Tribun gehört die Gasse wie zur Prostituierten.  Beide, die große Dirne und der große Eroberer, sind wie Brandfackeln, die entzündet weithin leuchten, Leichen über Leichen auf ihrem Wege lassen und untergehen, wie Meteore, für menschliche Weisheit sinnlos, zwecklos, ohne ein Bleibendes zu hinterlassen, ohne alle Ewigkeit – indessen die Mutter und der Genius in der Stille die Zukunft wirken.  Beide, Dirne und Tribun, werden darum, als „Gottesgeißeln“, als antimoralische Phänomene empfunden.

    Für die Mutter ist der Geschlechtsakt Mittel zum Zweck, für die Dirne Selbstzweck.  Darum ist sie, und nur sie, kokett.  Alle Koketterie ist natürlich nur Einleitungsstadium und Anspielung.

    Die Mutter wünscht vom Manne Anständigkeit, nicht um der Idee willen, sondern weil sie die Bejaherin des Erdenlebens ist.  Wie sie selbst arbeitet und nicht faul ist gleich der Dirne, wie sie stets von Geschäften mit Bezug auf die Zukunft erfüllt scheint, so hat sie auch beim Manne Sinn für Tätigkeit. Die Dirne hingegen kitzelt am stärksten der Gedanke eines rücksichtslosen, gaunerischen, der Arbeit abgewandten Mannes.  Ein Mensch, der einmal eingesperrt war, ist der Mutter ein Gegenstand des Abscheues, der Dirne eine Attraktion.  Wie die Mutter ein lebensfreundliches, so ist die Prostituierte ein lebensfeindliches Prinzip.  Physisches Leben und physischer Tod, sie verteilen sich auf das Weib als Mutter und als Prostituierte.  In der Prostitution aber muß eines der tiefsten Geheimnisse vom Wesen und von den Ursprüngen des Menschen verborgen liegen, denn nur beim Menschen findet sich dieser Trieb; Tiere und Pflanzen kennen nur die Mutterschaft. –

    Weininger hat natürlich genau gewußt, daß man seine Darstellung und seine Argumente schnell beiseite schieben wird (fi donc!), um desto mehr über seine Person die Nase zu rümpfen. „Wenn aber von der einen Seite das logische Schlußverfahren folgerichtig bis zu einem gewissen Abschluß gebracht wurde, ohne daß die andere auf den Beweisprozeß an sich eingeht, sondern nur gegen die Konklusionen heftig sich sträubt, dann darf in gewissen Fällen der erste wohl sich erlauben, den zweiten für die Unanständigkeit seines, zum Eingehen auf strenge Deduktion nicht zu bewegenden Benehmens zu strafen, indem er ihm die Motive seiner Halsstarrigkeit recht vor die Augen rückt.“ „Die Methode, statt Gründe mit Gründen zu widerlegen, den Angreifer einfach als Misogynen zu bezeichnen, hat in der Tat viel für sich.  Der Haß ist nie über sein Objekt hinaus, und deshalb bringt die Bezeichnung eines Menschen als eines Hassers dessen, worüber er aburteilt, ihn stets mit Leichtigkeit in den Verdacht der Unaufrichtigkeit, Unreinheit, Unsicherheit, die durch die Hyperbel der Anklage und das Pathos der Abwehr zu ersetzen suche, was ihr an innerer Berechtigung gebricht.  So verfehlt diese Art der Antwort nie ihren Zweck, die Verteidiger von allem Eingehen auf die eigentliche Frage zu entheben.  Sie ist die geschickteste und treffsicherste Waffe jener ungeheuren Mehrzahl unter den Männern, die sich über das Weib nie klar werden will. Denn es gibt keine Männer, welche über die Frauen viel nachdenken und sie dennoch hochhalten, es gibt unter ihnen nur Verächter des Weibes und solche, die über das Weib nie länger und tiefer gedacht haben.“

    Daß die Liebe der Mutter zu den eigenen Kindern vielen Menschen (wenigstens ihrer Mitteilung nach) als das „heiligste der Gefühle“ gilt, ist ihre Sache.  Aber sonderbar muß es doch anmuten, wenn Leute, die sich auf den innigen Zusammenhang des Menschen mit dem Tierreich was zugute tun, die den Menschen gerne homo sapiens Lin. nennen, und die doch in den meisten modernen Werken über Psychologie nachlesen könnten, wie sich der Mutterinstinkt aus der Sexualität entwickelt hat, respektive daß er nur eine ihrer Erscheinungsformen ist; wenn solche Leute Zeter und Mordio schreien, daß einer ganz ruhig die Mutterschaft so hoch wertet wie die Sexualität, nicht höher und nicht niedriger.  Wenn dieser Eine zufällig noch Kantianer ist, so gilt ihm eben alles Natürliche als gleich amoralisch (d. h. ohne Verhältnis zum Sittlichen, während antimoralisch unsittlich heißt; wenn aber das, was keine Beziehung zur Sittlichkeit hat, doch in eine gebracht wird, so kann das natürlich nur eine negative Beziehung sein).  Ich habe einige Stellen aus bekannten, modernen Autoren herausgesucht, um zu zeigen, daß die Verwandtschaft oder Identität von Mutterinstinkt und Sexualität nicht etwa von Weininger erfunden wurde (wie manche zu glauben scheinen), sondern eine allgemein bekannte Sache ist.  Wer es schon weiß, der möge die folgenden Zitate überschlagen.  Bain (Emotions and Will) unter anderem: „lt seems to me that there must be at the foundation (of the parental instinct) that intense pleasure in the embrace of the young which we find to characterize the parental feeling throughout.  Such a pleasure once created would associate itself with the prevailing features and aspects of the young, and give to all of these their very great interest. For the sake of pleasure, the parent discovers the necessity of nourishing the subject of it, and comes to regard the ministering function as a part or condition of the delight.“ Horwicz („Psychologische Analysen auf physiologischer Grundlage“, S. 364) erklärt die Mutterliebe durch die Übertragung eines Gefühles der Erleichterung nach der Geburt, der Lust der Erinnerung an die Konzeption, der Lust des Säugens u. dgl. m. auf die Person des Kindes. Espinas („Les sociétés animales“, p. 444 f.): „La femelle, au moment où elle met au jour ses petits semblables à elle-même, n'a aucune peine à reconnaître en eux la chair de la chair“ . . . „l’amour de soi étendu à ceux qui sortent de soi change „l’égoisme en sympathie et l’instinct de proprieté en impulsion affectueuse“ etc.  Ribot („La Psychologie des sentiments“, 4me éd., p. 285): „L'amour maternel n'est pas la source de l’instinct sociale, parcequ’il n’implique ni solidarité ni réciprocité.“  Ferner Spencer („Principles of Psychology“), Schneider („Der menschliche Wille“), Höffding („Psychologie in Umrissen“) u. v. a.

 

 

    Ich schließe hier die psychologische Erklärung der Hysterie an, die Weininger gegeben hat.  Diese Theorie ist ein nicht zu missender Bestandteil seines psychologischen Systems, und gibt Antwort auf die Einwände, die gegen seine Darstellung von W erhoben werden konnten, vor allem auf das, was über „Unsinnlichkeit“, „Schamhaftigkeit“ usw. der Frauen vorgebracht wird.  Die einseitig physiologische Auffassung des spezifisch weiblichen Erscheinungskomplexes, den man Hysterie nennt, weist Weininger mit dem einfachen Hinweis darauf zurück, daß „niemand noch ein hysterisch verändertes Gewebe gesehen hat“, und sucht alle weiteren Aufschlüsse auf dem Weg, den besonders Janet, Breuer und Freud eingeschlagen haben, und der „in der Richtung auf die Rekonstruktion des psychologischen Prozesses“ liegt.  Daß die Hysterie eine Uneinigkeit des Menschen mit sich selbst sei, in der Zerspaltenheit der Psyche bestehe („double personnalité“, Hypnose etc.), ist nichts Neues, und auch der Laie in pathologicis kann diese Beobachtung leicht machen.  Swoboda sagt z. B. (op. cit.  S. 73): „Es unterliegt keinem Zweifel, daß diese Spaltung überhaupt das Wesen der Hysterie ausmache.“ Neu ist die Auffassung Weiningers wesentlich in den folgenden Punkten.  Die Hysterikerinnen sind durchwegs passive Frauen (weshalb sie auch die besten Medien abgeben), die in ihr Bewußtsein fremde Werte als dominierendes Element aufgenommen haben.  Die tiefste, ja die einzige Wesenheit der Frau ist die Sexualität; aber die Werte des Mannes und der Gesellschaft üben einen so überwältigenden Einfluß auf W aus, daß ihr Eigenstes zurückgedrängt, geknechtet wird; die Persönlichkeit teilt sich.  „Die Spaltungen der Persönlichkeit sind eben nur dort möglich, wo von Anfang, an keine Persönlichkeit da ist, wie beim Weibe.“ Das einzige Wollen, das der Sexualität, wird in Angst vor sich selbst umgekehrt, die Passivität des Weibes geht so weit, „daß es das, was es ist, das einzige, was es wirklich positiv ist, daß es selbst dies verleugnen kann“.  Der männliche Maßstab aller Handlungen, der nach den Gesetzen des Logischen und des Sittlichen geschnitten ist, wird auf ihre nur-sexuelle Natur aufgepfropft, sie „erhält eine zweite Natur, ohne auch nur zu ahnen, daß es ihre echte nicht ist“, sie glaubt selbst, alles das im Innersten zu wollen, was ihr imprägniert wurde, und empfindet ihr Eigenstes als „Fremdkörper im Bewußtsein“.  Im hysterischen Anfall wird der Kampf zwischen Autochthonem und Hinzugekommenem aktuell: „Hysterie ist die organische Krisis der organischen Verlogenheit des Weibes.“ Die peinliche Wahrheitsliebe, das Meiden alles Sexuellen, das den Hysterikerinnen nachgerühmt wird, ist der Pseudopersönlichkeit entsprungen, die diese unglücklichen Frauen vor sich selbst und vor aller Welt darstellen müssen.  Das Eigene, Echte wird nur noch als „Gegenwille“ (Freud), als Feindliches empfunden und bricht in der Krise durch.  Die Hysterikerin ist nicht sittlich hochstehend; sie übernimmt ganz sklavisch die männlichen Werte, ohne sie zu begreifen, und liegt an ihnen gefesselt wie der Hund an der Kette.  Eine weniger strenge Ethik als die kantische, der Weininger durchaus anhängt, eine Erfolgsethik kann sich allerdings mit diesem äußerlichen Handeln nach Gesetzen zufrieden geben, aber dem tieferen Menschen ist immer nur das sittlich gewesen, was in ihm die autonome Bejahung des höchsten Gesetzes verlangte.  Den anderen wird ihre Moral von den Staatsgesetzen, von der Gesellschaft oder sonstwoher suggeriert, wie der hysterischen Frau die ihre vom Manne.  Was Suggestion in der Psychologie, das ist Heteronomie in der Ethik.

 

 

5. Sexualität und Erotik

 

    Der gegründetste sachliche Einwand gegen die Psychologie von W ist so überzeugend zurückgewiesen. (Bei der großen Anzahl hysterischer Mädchen in der modernen Großstadtgesellschaft wird jedem, der nur einigermaßen zu beobachten imstande ist, Weiningers Erklärung einleuchten; die körperlichen Symptome der Krankheit mögen dem Arzte gewahrt bleiben.) Aber das stärkste Argument gegen die niedrige Schätzung alles Weiblichen auf Erden ist kein sachliches, sondern ein persönliches. Es handelt sich da natürlich immer um die Einwände der Männer, denn eine Frau wird sich selbst nie beobachten, nie kennen, nie preisgeben.[12]) In der Erotik steht der Mann zur Frau in einem Verhältnis, das ihn über sie in eigentümlicher Weise täuscht, das an die Stelle des wirklichen Weibes eine von ihm geschaffene Phantasiegestalt setzt; und über diese Frau, die der Mann nach seinem Sinn verändert hat, will er nichts Ungünstiges wissen.  Und wo der Wille ins Spiel kommt –

    Es ist eine sehr große Wahrheit, die Weininger ausspricht, wenn er die Heterogeneität von Sexualität und Liebe behauptet.  Von Schopenhauers „Metaphysik der Geschlechtsliebe“ zehrt ja heute so ziemlich alles, was sich mit diesen Themen befaßt, und daß Biologen und Literaten nichts anderes kennen als Geschlechtlichkeit, und Erotik ihnen allenfalls „vergeistigte Sexualität“ heißt, darf einem nicht wundern.  Aber beides sind entgegengesetzte Dinge beim Manne; alle tieferen Zeiten haben das gewußt, und erst unserer Mischmasch-Weltanschauung war die Konzeption der „Venus-Madonna“ vorbehalten.  Die spirituelle Liebe ist ein männliches Spezifikum, und man kann geradezu den M-Gehalt eines Mannes daran abschätzen, wieviel Verständnis für dieses männliche Extrem-Gefühl er besitzt. (Wer fast nur M ist wie Jesus oder Kant, hat allerdings auch für die Liebe nichts mehr übrig.) Die Frauen stehen diesem Gedanken fassungslos, ja empört gegenüber.  Für sie ist Sexualität und Erotik dasselbe, sie kennen nur verschiedene Grade dieses Grundgefühles, und alle Liebeslyrik der Frauen ist entweder Geschlechtsbrunst oder Mutterliebe.  Was hier Weininger zum ersten Male (in modernen Zeiten) ausführt, wird fruchtbar werden: „Liebe und Begehren sind zwei so verschiedene, einander so völlig ausschließende, ja entgegengesetzte Zustände, daß in den Momenten, wo ein Mensch (resp. ein Mann) wirklich liebt, ihm der Gedanke der körperlichen Vereinigung mit dem geliebten Wesen ein völlig undenkbarer ist.“ „Es gibt also platonische Liebe, wenn auch die Professoren der Psychiatrie nichts davon halten.  Ich möchte sogar sagen: es gibt nur platonische Liebe.[13])“ Sie ist wohl nur für den höheren Menschen aktuell, aber auch der Mann, der fast ausschließlich sexuell und kaum erotisch ist, wird wenigstens eine Ahnung von dem haben, was hier gemeint ist; die Frauen haben dafür natürlich soviel Verständnis wie eine Katze für ein Mozartquartett.  „Einen schmachvollen Dualismus“ nennt diese Grundwahrheit des männlichen Fühlens die komische Broschüre einer modernen Schriftstellerin, und ereifert sich: „Nur der überhaupt nie ein Weib gekannt hat, sondern nur sein Zerrbild – die Dirne –, nur wer sich eines krankhaften Defektes noch mit Überhebung brüstet, konnte diesen Ausspruch tun.“ Die eine sagt es, aber wohl alle denken so.

  Ich übergehe die Phänomenologie der Liebe, die Weininger unübertrefflich in dem Kapitel „Erotik und Ästhetik“ gegeben hat, und führe aus der Theorie noch das folgende an.  Der Gegenstand der Liebe kann nicht das Weib der Wirklichkeit sein; diese vollendet gute, schöne und reine Gestalt ist eine Schöpfung des männlichen Liebesbedürfnisses.  Alles, was ihm vollkommen und anbetungswürdig dünkt, was er selbst sein will und nicht sein kann, das Ideal schlechthin, „sein eigenes, tiefstes, intelligibles Wesen, frei von allen Fetzen der Notwendigkeit, von allen Klumpen der Erdenheit“, konzentriert er in eine Frau.  Sich selbst findet er stets mangelhaft, unvollkommen; aber er will ein Wesen kennen, das makellos ist, „er proiziert sein Ideal eines absolut wertvollen Wesens“.  Der Mann schafft so die Schönheit des Weibes, die nur für ihn besteht, und die die Frau nur als vom Manne geschätzt an sich selbst achtet; ihren eigenen Leib liebt sie, weil er vom Manne geliebt wird, von ihm „geweiht“.  Zur konkreten Illustration dessen, wie sich die Frau zum Objekt des Mannes macht, allen Wert von ihm empfängt, will ich ein modernes Gedicht anführen, das übrigens für alle weibliche Liebeslyrik typisch ist:

 

 

Weihe.

Ich liebe diese Form, die dich entzückt,
Die weiße Brust, an der dein Haupt gelegen,
Und diesen Nacken, den dein Arm umschlungen.
Seit deines Kusses Wonnen mich durchdrungen,
Liegt's über mir wie ein geheimer Segen,
Ein Frühlingsglanz, der meine Glieder schmückt.


(Anna Ritter.)

 

    Von dem reinen Wesen, das seine Phantasie gestaltet hat, will sich der Mann erlösen lassen, es soll ihn von aller Sünde erretten; hier liegt der Zusammenhang der Liebe mit dem Erlösungsbedürfnis, den die größten Dichter empfunden haben (Dante, Goethe, Wagner).[14]) Aber in jeder wirklichen Liebe wird die reale Psychologie des Weibes ausgeschaltet: „Im Augenblick, wo der Mann ein Weib liebt, kann er es nicht durchschauen.  In der Liebe tritt man zum Weibe nicht in jenes Verhältnis des Verstehens, welches das einzig sittliche Verhältnis zweier Menschen ist.  Man kann keinen Menschen lieben, den man ganz erkennt, weil man dann gewiß auch die Unvollkommenheiten sehen müßte, die ihm als Menschen notwendig anhaften, Liebe aber nur auf Vollkommenes geht.“ Das wirkliche Weib wird daher psychisch getötet, und an ihre Stelle, in ihren Leib ein anderes, nicht existierendes „introiziert“. (Auf den hier enthüllten Zusammenhang von Erotik und Grausamkeit, von Leben und Tod gehe ich nicht weiter ein.) Alle Liebe will so den Kampf von der eigenen Brust in ein anderes Wesen verlegen, sie will zur Vollkommenheit hinaufschauen, nicht Vollkommenheit erkämpfen; der Mann will sich „erlösen lassen“.  Alles aber ist unsittlich, was nicht aus dem eigenen Willen quillt: sich selbst erlösen.

    Diese unumgängliche Konsequenz, die Weininger für die Ethik aus dem Wesen selbst der höchsten Erotik zieht („Jeder große Erotiker ist ein Genie und alles Genie ist im Grunde erotisch“, weil es alle Dinge liebend umfaßt), dieser Schluß ist das Grausamste, was „Geschlecht und Charakter“ für alle höheren Menschen, soweit sie konsequentes Denken anerkennen, birgt; und vielleicht hat Weininger selbst am meisten daran gelitten. –

    Was über Ästhetik gesagt ist, lasse ich beiseite, um nicht zu umfänglich zu werden.  Aber dieses Kapitel (das an tiefer Psychologie vielleicht unerreicht dasteht) schließt mit einem Mythus, wie ihn nicht jeder Dichter ersonnen hat: „Vielleicht hat der Mann bei der Menschwerdung durch einen metaphysischen außerzeitlichen Akt das Göttliche, die Seele für sich allein behalten – aus welchem Motive dies geschehen sein könnte, vermögen wir freilich nicht abzusehen.  Dieses sein Unrecht gegen die Frau büßt er nun in den Leiden, der Liebe, in und mit welcher er der Frau die ihr geraubte Seele wieder zurückzugeben sucht, ihr eine Seele schenken will, weil er sich des Raubes wegen vor ihr schuldig fühlt.  Denn gerade dem geliebten Weibe, ja eigentlich nur ihm gegenüber drückt ihn ein rätselhaftes Schuldbewußtsein am stärksten.“

 

 

6. Das Judentum.

 

    Da das Hauptaugenmerk der charakterologischen Teile von „Geschlecht und Charakter“ den Frauen zugewandt ist, so könnte es leicht scheinen, als ob die Männer allzugut bei der Beurteilung davonkämen; dies ist jedoch nicht im entferntesten die Meinung Weiningers, wie sich noch herausstellen wird.  Es erklärt sich dadurch, daß die Männer überhaupt in den Hintergrund treten; zu ihrer speziellen Psychologie hat das Buch nur an wenigen Orten Stellung genommen.  Eine eingehendere Analyse findet dagegen das Phänomen des Judentums, in dem Weininger viel Weibliches sieht und im Detail aufzeigt.  Ich lasse mich auf eine inhaltliche Darstellung des spezifisch Jüdischen nicht ein, will aber die Methode, die Weininger verfolgt, möglichst deutlich machen.  Was er über das Judentum sagt, wird für jede künftige Kulturpsychologie fundamentale Bedeutung haben.  Hier ist zum erstenmal mit dem höchsten Grade von Klarheit ausgesprochen, worum es sich da handelt: um den Geist des Judentums, und nicht um die Abstammung der Juden.  Das Problem des Judentums, soweit es für die allgemeine Kultur Interesse besitzt (und nicht nur für die Anthropologie), ist ein ausschließlich psychologisches, kein naturwissenschaftliches.  Der Rassenantisemitismus, der in H. St. Chamberlain seinen vornehmsten Vertreter gefunden hat, muß als die Vorstufe für den geistigen Antijudaismus angesehen werden; ich füge übrigens gleich hinzu, daß sich diese Absicht wesentlich mit der Chamberlains deckt, wie aus dem Abschluß seiner meisterhaften Darstellung hervorgeht. (Daß Chamberlain den Willen im Schopenhauerschen Sinn im Gegensatz zum Intellekt beim Juden vorwiegend findet, Weininger im Kantischen Sinne von der Inferiorität des Willens spricht, lasse ich, als zum Inhalt, nicht zur Methode gehörig, beiseite.) Auf Seite 455 f. der „Grundlagen des 19.  Jahrhunderts" (Bd. 1, 2. Aufl.) spricht Chamberlain von der „leitenden Idee des Judentums“.  „Und die jüdische Nationalidee scheint eine ganz besonders mächtige Wirkung auszuüben, vielleicht gerade darum, weil in diesem Falle die Nation lediglich als Idee existiert und vom Anbeginn des Judentums an niemals eine normale ‚Nation’ war, sondern vor allem ein Gedanke, eine Hoffnung.“

    Es ist nur zu begreiflich, daß sich bei allen, denen es mit der Kultur Ernst ist, das vage Gefühl der Kulturschädlichkeit des modernen Judentums zu dem Antisemitismus konkreszieren mußte, der die jüdische Rasse, den Fremdkörper im indogermanischen Mittelund Westeuropa, als das Schlechte ansieht, als das Element, das der Kultur Widerstand leistet, das nicht kultivierbar ist.  Und gewiß kann es kein Zufall sein, daß zu der Zeit, da die Juden in das europäische Kulturleben eintraten, der roheste Materialismus, diese würdeloseste und vorurteilsvollste aller möglichen Weltanschauungen, in die Blüte schoß.  Schon Schopenhauer hat hier den Zusammenhang instinktiv gespürt.  Der jüdische Geist ist der Erbfeind jeder Kultur, Materialismus und Positivismus sind dem echten Juden ja nur Vorwände, die er gar nicht ernst nimmt.  Der Haß gegen das kulturell Produktive, gegen alles Geistige und Vornehme beseelen ihn, und wo er etwas verhöhnen kann, das sich über den Boden der plebeischesten Handgreiflichkeit erhebt, da ist er an seinem Platz.

    Ich glaube nicht, daß der Rassenantisemitismus wohl begründet und klar bewußt ist; wie das Volk der Juden geschichtlich geworden und warum es so ist, wie heute zu sehen, das ist recht gleichgültig.  Ein Stamm, ein anthropologisches Gebilde läßt sich nicht werten; es gehört dem Bereich der Naturwissenschaft an, und nur seine Eigenheiten können aufgezeigt werden – aber die Bezeichnungen „gut“ und „schlecht“ verlieren da ihren Sinn.  Der Begriff des Wertes ist aus den Naturwissenschaften mit Recht ausgeschaltet worden, und so sonderbar es klingt: der Rassenantisemitismus muß als ein unlogisches (wenn auch nicht falsches) Urteil bezeichnet werden, das durch das Übergreifen naturwissenschaftlicher Methoden auf fremdes, kulturwissenschaftliches Gebiet entstanden ist. Das Prinzip des Wertens hat aber nur in der Normwissenschaft (zu der die Kulturphilosophie zählt) seine Stelle.  Woran soll denn eine Menschenspezies, ein Gegenstand für die Anthropologie, geschätzt, und anderen Spezies gegenüber für gut oder schlecht erkannt werden?  Man braucht für jede Wertung einen Maßstab, und der ist hier die Idee der Kultur.  In der Naturwissenschaft ist alles gleich viel wert, besser nichts ist wert, alles ist wertlos.  Kultur aber ist ein System von Werten, ja der Inbegriff aller geistigen Werte. (Man vergleiche hierzu: Weininger, „Wissenschaft und Kultur“, letzte Dinge, S. 133f., Oskar Ewald, „Romantik und Gegenwart“, Leop. Ziegler, „Das Wesen der Kultur“.) Nur geistige Erscheinungen können zu der Einheit der geistigen Werte in ein Verhältnis gebracht, können nach den Kategorien gut und schlecht gewertet werden: der jüdische Geist, das, was aus der Geschichte des Judentums, aus seiner Literatur, ja selbst aus seiner Philosophie in ihrer höchsten Spitze sich herausdestilliert, was als sein Korrelat zur Kultur angesehen werden muß – das ist wesentlich antiindividuell und antikulturell.[15]) Dem gemeinen Manne wird das Böse, was er im Judentum dunkel empfindet, immer an den einzelnen Juden geknüpft sein; er haßt ihn, fürchtet ihn, wenn er ihn nicht um seine Klugheit im Gelderwerb beneidet.  Aber wer dem Zusammenhang der Dinge nachspürt, muß als wesentlich schlecht erkennen, was sich als jüdischer Geist in den verschiedensten Gebieten und auf die verschiedenste Weise äußert.  Diesem Geist wird Wissenschaft zum Geschäft, Philosophie zur Geistreichelei, Kunst zum Journalismus, Religion – nun, die wird zu gar nichts, denn dazu hat der moderne Jude schlechterdings keine Beziehung.  Er glaubt ja nicht an seinen Gott und nicht an seinen Atheismus.

    Die Aufgabe, die sich so für eine ihrer selbst bewußte Kulturphilosophie ergibt, muß die sein, den Geist des Jüdischen, die Idee des Judentums, die ja nicht so einfach festzulegen ist wie die Abstammung, in ihrer Vollendung zu zeigen.  Und das ist meiner Überzeugung nach Weininger im höchsten Maße gelungen.  Hätte er nicht in sich selbst Jüdisches besessen, so wäre es ihm nicht möglich gewesen, so wie er ja auch das Weibliche sonst nicht hätte herausheben können; aber die ungeheuren Kontraste, aus denen sich sein ganzes Geistesleben aufgebaut hat, und auf die ich noch zurückkomme, machten ihn fähig, auch dieses dunkelste Gespenst, das geistige Judentum, im Licht seines hellsten Gegensatzes, des tief erfaßten Christentums, zu packen und in seiner Nacktheit zu zeigen.  Es gibt zweifellos keinen vollkommenen Juden, wie es kein vollkommenes M und kein vollkommenes W gibt; aber in den historischen Juden ist das, was Weininger als J hätte bezeichnen können, in hohem Maße vertreten.  Nur soweit es in ihnen ist, nur soweit kann man sie als „Juden“ ansprechen.  Und ob es überhaupt einen Stammesjuden gibt, der vom „Jüdischen“ nichts in sich hat, bleibt zweifelhaft; hier liegt die Wahrheit des Rassenantisemitismus. „Es handelt sich mir nicht um eine Rasse und nicht um ein Volk, noch weniger freilich um ein gesetzlich anerkanntes Bekenntnis.  Man darf das Judentum nur für eine Geistesrichtung, für eine psychische Konstitution halten, welche für alle Menschen eine Möglichkeit bildet und im historischen Judentum bloß die grandioseste Verwirklichung gefunden hat.“ „Wenn ich fürder vom Juden spreche, so meine ich nie den einzelnen und nie eine Gesamtheit, sondern den Menschen überhaupt, sofern er Anteil hat an der platonischen Idee des Judentums.  Und nur die Bedeutung dieser Idee gilt es mir zu ergründen.“ Dem heutigen grobkörnigen Denken kommt das natürlich recht ungreifbar vor: man verlangt, daß feine psychologische Differenzen da gesehen werden, wo man doch einfach pauschaliter verurteilen oder anerkennen möchte.  Aber wer in Kulturfragen mitreden will (und eine solche, nur eine solche ist das Judentum), muß eben auch ein Organ für Dinge haben, die sich einer quantitativen Analyse, und wäre sie noch so genau, nicht enthüllen.[16])

    Ich weiß nicht, ob Chamberlain Weiningers Buch kennt, noch auch, wie er über dessen Darstellung des Judentums denkt.  In seinen „Grundlagen“ schwankt er beständig zwischen kulturellem Idealismus und naturwissenschaftlichem Sensualismus, zwischen „Idee“ und „Rasse“; doch mag es sein, daß hieran die geringe Berücksichtigung der eigentlichen Philosophie in den „Grundlagen“ die Schuld trägt; seine Stellung wird sich jedenfalls in dem angekündigten Buch über Kant klären müssen.[17]) Es ginge allerdings wunderlich zu, wenn ein Geschichtsphilosoph seines Ranges in den Vorurteilen einer früher geübten, aber auf diesem Gebiet durchaus unangebrachten Methode, der naturwissenschaftlichen, verharren wollte.  Bei den hohen Zielen, die sich dieser Mann stellt, wird er ja wohl seine Formulierung des Jüdischen, die weder streng naturwissenschaftlich ist[18]) (denn dann hätte sie kein Mittel zu werten), noch auch ganz auf geistigem Boden steht[19]), in der von Weininger gezeigten Richtung verschieben.  Alles, was Chamberlain über das Judentum sagt, ist sicherlich wahr und mit großer Mäßigung vorgetragen. (Man vergleiche z. B., was auf S. 329 über das Verhältnis des Juden zu Christus steht, u. a.: „Die Erscheinung Christi ist für den Juden ohne Bedeutung.“) Aber es genügt nicht für die prinzipielle Entscheidung.[20]) Die Idee des Jüdischen muß herausgearbeitet werden und dann gewertet.  Naturwissenschaftlich mag das Judentum eine Frage des Anthropologen und des Ethnologen bleiben; er wird dies und jenes feststellen, wird zeigen, woher die mosaische Gesetzgebung stammt u. dgl.  Die Naturforschung kann vielleicht sogar klarlegen, obgleich dies sehr zweifelhaft scheint, wieso dem Judentum die unerhört zähe Lebenskraft innewohnt, die es aus allen Kämpfen heil hervorgehen ließ.  Dem Philosophen handelt es sich nicht um die Beantwortung dieser Fragen, der Frage: Was besteht und warum besteht es so?, sondern um die Beantwortung des Kulturproblems: Was ist wert zu bestehen?  Er zeigt, daß das Judentum der Feind aller wahren Kultur ist, und sein Streben muß es sein, diesen Feind möglichst klar zu enthüllen.  Weininger hat hier sein Problem vollständig gelöst; es wird sich kaum je etwas Besseres darüber sagen lassen, und noch aus seinen letzten Aphorismen geht hervor, wie er darunter gelitten hat.  Denn – „jedes wahre Problem ist eine ebenso wahre Schuld; jede Antwort eine Sühnung, jede Erkenntnis eine Besserung“ („Letzte Dinge“, S. 170).  Ich glaube, daß auch in dem Dänen Kierkegaard etwas von geistigem Judentum gelebt hat; seine blutige Ironie hat ihn zeitlebens gequält und zu dem tiefsten Verständnis der Religion hingepeitscht.

    Das Kapitel schließt programmatisch: „Unsere heutige Zeit läßt das Judentum auf der höchsten Höhe erblicken, die es seit den Tagen des Herodes erklommen hat, Jüdisch ist der Geist der Modernität, wo man ihn betrachtet.“

    „Aber dem neuen Judentum entgegen drängt ein neues Christentum zum Lichte; die Menschheit harrt des neuen Religionsstifters, und der Kampf drängt zur Entscheidung wie im Jahre eins.  Zwischen Judentum und Christentum, zwischen Geschäft und Kultur, zwischen Weib und Mann, zwischen Gattung und Persönlichkeit, zwischen Unwert und Wert, zwischen irdischem und höherem Leben, zwischen dem Nichts und der Gottheit hat abermals die Menschheit die Wahl.  Das sind die beiden Pole: es gibt kein drittes Reich.“

 

 

 

7. Das Wesen der Genialität

 

    Und nun wollen wir uns zu Erfreulicherem wenden.  Alle Theorien über das Genie lassen sich in zwei Gruppen teilen: solche, die von genialen, und solche, die von ungenialen Menschen aufgestellt wurden.  Die letzteren tasten stets an der Außenseite des Phänomens herum; sie analysieren die Äußerungen des Genius, vergleichen sie, ordnen sie, und suchen immer nach einem Standpunkt, von dem sie ihr Objekt in möglichster Deutlichkeit vor sich sehen können.  Man merkt es gleich: sie sprechen von etwas Fremdem und suchen dieses Fremde in einen guten Zusammenhang mit allem Vertrauten zu bringen.  Dabei müssen ja die Theorien nicht gerade so wesensfremd ausfallen, wie die bekannten Lehren der Lombroso-Schule, oder so, dogmatisch darwinistisch wie die Ansicht Ernst Machs, nach dem „zum Genie ein Talent wird durch die über die Jugendzeit hinaus erhaltene Fähigkeit der Anpassung“.[21]) Wenn geniale Menschen über Genialität reflektieren, so geben sie fast immer eine Beschreibung ihrer selbst und heben alle die Punkte als wesentlich hervor, die sie bei anderen alltäglichen Menschen nicht gewahr werden.  Meist bauen sie auch noch die in sich selbst als genial empfundenen Qualitäten zur Vollendung aus.  Das Genie-Sein ist ihnen das Natürliche, sie sprechen aus dem Zentrum heraus, nicht wie die anderen von der Peripherie hinein.  Ihre Theorie vom Genie kommt oft einem Selbstporträt sehr nahe, und daran, was ein Philosoph vom Genie sagt, kann man meist ihn selbst erkennen – aber auch seine Sehnsucht, die zum Künstler hinüberführt.  Eine Zuordnung dieser Theorien zu ihren Urhebern wäre eine reizvolle charakterologische Aufgabe.

    Aus dem Gesagten geht hervor, daß eine Theorie vom Genie, die für alle möglichen Fälle Genüge leistete, nicht existiert.  Sie wäre nur denkbar, wenn man sie im Besitze der absoluten Philosophie deduzieren könnte; aber was die Philosophen in dieser Richtung geleistet haben, war doch immer insgeheim Induktion von sich selbst. Jedem neuen Genius liegt alles Sein in einer noch nie dagewesenen Konstellation vor Augen (deren Schilderung, wenn sie begrifflich ist, sein System heißt), und neue psychische Kategorien scheinen in ihm aktuell zu werden, ob sie gleich schon in anderen geschlummert haben mögen.[22])

    Schopenhauers Theorie ist ein Überwinden-Wollen des Pessimismus und gibt wesentlich die Genialität des Künstlers wieder.  Was Weininger gelehrt hat, ist die Genialität des Psychologen.  Weil aber der Psychologe derjenige ist, der zu allem Menschlichen einen Zugang hat, der als Dramatiker auch Künstler wird – der Nur-Künstler hat kein Verhältnis zur begrifflichen Seinsart – so scheint mir die Theorie Weiningers die allgemeinste zu sein, die über das Wesen der Genialität existiert.  Auf einen durchaus hypothetischen Punkt darin werde ich noch zu sprechen kommen.

    Die Genialität des Psychologen (und des dramatischen Künstlers) ist es, die in dem Satze Weiningers gekennzeichnet wird: „Ein Mensch ist um so genialer zu nennen, je mehr Menschen er in sich vereinigt, und zwar je lebendiger, mit je größerer Intensität er die anderen Menschen in sich hat.“ Das Goethische Postulat, in der eigenen Brust zu fühlen, was der ganzen Menschheit aufgespart ist, enthält für Weininger das Wesentlichste.  Er spricht von der „Proteus-Natur des Genies“, die heute den Heiligen, morgen den Verbrecher, übermorgen den Künstler in sich findet, und sie alle synthetisch umschließt.  So gilt auch der Satz: „es gibt keinen genialen Menschen, der nicht ein großer Menschenkenner wäre“ in erster Linie für den großen Psychologen (der übrigens, wie die Geschichte lehrt, noch seltener zu sein scheint als der große Künstler).  Um einen Menschen zu verstehen, muß man ihn in sich haben (darum sind ja die Theorien nur-wissenschaftlicher Menschen über das Genie so schal); aber noch mehr: man muß auch sein Gegenteil in sich haben. Die erste Voraussetzung des Bewußtwerdens und des Bemerkens irgendeines Dinges, seiner „Abhebung“ ist das Vorhandensein seines Kontrastes. Je genialer ein Mensch ist, desto größer sind die Spannungen in seiner Seele.  Dies gilt ganz allgemein und ist, wie ich glaube, ein unfehlbares Mittel, nicht so sehr die Extension als die Intensität einer konkreten Persönlichkeit zu bestimmen.  Kants Bewußtsein umspannte das erhabenste Sittengesetz, aber auch die dämonische Konzeption des „Radikal-Bösen“, Schopenhauer hat die stille Ruhe der platonischen Ideen dem trostlosesten aller je erfundenen Weltprinzipien, dem blinden Willen gegenübergestellt, und Jesus hat den Teufel gekannt und ward von ihm versucht. Je größer in einem Menschen diese Spannung ist, desto schärfer wird sich ihm der Dualismus der Welt ins Bewußtsein heben; je stiller es aber in einem zugeht, je mehr seine Psyche einem Idyll statt einer Tragödie gleicht, desto näher wird er dem Monismus kommen, desto weniger wird er die riesige Wucht der ethischen Antinomie begreifen.  Nur wem das Band der Naturnotwendigkeit zur dämonischen Fessel geworden ist, der wird die Freiheit fassen; wer die Naturkausalität abschwächt, empirisiert, leugnet (wie Hume und Avenarius), der schiebt den Gedanken der Willensfreiheit beiseite. Er dünkt ihn eine Täuschung.  „Einsicht in die Gesetzmäßigkeit ist schon Freiheit von ihr“ („Letzte Dinge“, S. 71). Ähnlich sagt Kierkegaard, daß die „Unfreiheit ein Phänomen der Freiheit ist und nicht durch Naturkategorien zu erklären“.  Das heißt, der Gedanke der Unfreiheit hat für den Monisten keinen Sinn, nur wo Freiheit postuliert wird, und so der Dualismus gesetzt, kann man vermöge des Kontrastprinzipes verstehen, was Unfreiheit heißt.  Sonst genügt der gleichmäßige Funktionalismus, der sich zur Strenge der Notwendigkeit gar nicht die Mühe gibt.  Dieses Prinzip des Kontrastes ist für das Verstehen jeder dualistischen Konzeption und besonders für die Philosophie Weiningers, die extremen Dualismus darstellt, von höchster Bedeutung.  Selbstverständlich ist unter Dualismus nicht eine matte Polarität wie „Denken“ und „Sein“ u. dgl. zu verstehen, sondern immer der Dualismus, der durch die Annahme einer Ethik gesetzt wird und der sich zu innerst in dem Begriffepaar„Naturkausalität – Freiheit“ ausdrückt.  Ich komme auf das Prinzip des Kontrastes im allgemeinen und in Weiningers Person noch zurück.

    Jeder Mensch hat für irgend etwas Sinn und besonderes Verständnis, der geniale Mensch hat die intimsten Beziehungen zu den meisten Dingen, ihm wird alles bewußter, und „so ist das geniale Bewußtsein am weitesten entfernt vom Henidenstadium; es hat vielmehr die größte, grellste Klarheit“. Weil „Genialität identisch ist mit höherer, weil allgemeiner Bewußtheit“, darum ist das Kennzeichen des Genies Universalität.  Es gibt keine Spezialgenies, sondern nur Universalgenies.  „Es gibt vielerlei Talente, aber nur eine Genialität“, die nicht starkentwickeltes Talent ist, sondern etwas prinzipiell anderes, etwas Allgemein-Menschliches, nichts Besonderes.  Man kann mit zweifellosem Recht weitergehende Analogien vornehmen, die an der Verschiedenartigkeit des speziellen Ausdrucksmittels nicht stranden dürfen: Dürer, Bach und Kant; Weber, Eichendorff und Schwind gehören mit gutem Fug zueinander.

    Ich schalte nun Weiningers Theorie vom Gedächtnis ein, die mit der vom Genie verflochten ist. Je plastischer ein Eindruck war, desto eher wird er reproduziert werden können, und da die Gliederung der Eindrücke eines Menschen mit seiner Begabung zunimmt, so wird dem Begabtesten das meiste von dem, was er erlebt hat, gegenwärtig sein.  Eine Stufenfolge führt vom völlig zusammenhangslosen Menschen, der bloß von Augenblick zu Augenblick lebt und alles vergißt, was er erlebt hat, „bis zum völlig kontinuierlich lebenden, dem alles unvergeßlich bleibt (so intensiv wirkt es auf ihn ein und wird von ihm aufgefaßt)“.  Beides sind extreme Idealfälle, die nicht existieren: „selbst das höchste Genie ist nicht in jedem Augenblick seines Lebens genial".  Es handelt sich natürlich „um das Gedächtnis für das Erlebte, nicht um die Erinnerung an das Erlernte“.  Weininger glaubt, daß die Begabung eines Menschen seiner Apperzeption, seinem Aufnehmen und Bewahren proportional sei.  Der vollkommen geniale Mensch müßte sein ganzes Leben stets gegenwärtig haben.  „Was aber ein Mensch nie vergißt, und was er sich nicht merken kann, das ermöglicht am besten die Erkenntnis seines Wesens, seines Charakters.“ Das Weib hat keine zusammenhängende Erinnerung, es weiß nur von einzelnen Punkten, von solchen, für die W seiner Natur nach ausschließlich Interesse hat. „W verfügt überhaupt nur über eine Klasse von Erinnerungen: es sind die mit dem Geschlechtstrieb und der Fortpflanzung zusammenhängenden.“ „Das ist alles, woran das echte Weib aus seinem Leben sich erinnert.“ Da Genialität höchste Bewußtheit und vollkommene Kontinuität des Lebens ist, kann W nicht genial sein, Genialität wird „eine Art höherer Männlichkeit“ sein müssen.  „Genial ist ein Mensch dann zu nennen, wenn er in bewußtem Zusammenhange mit dem Weltganzen lebt.“

    Was Weininger über das Mißverhältnis von Genialität und Weiblichkeit sagt, ist gewiß durchaus zutreffend; daß er aber die Genialität der Männlichkeit so nahe rückt, scheint mir eine unbewiesene Hypothese; das Anfechtbare liegt in seiner Gleichsetzung des hellen Bewußtseins mit M. Was von W ausgesagt wird, deckt sich mit der Erfahrung; aber es gibt viel M in der Welt, das mit Genialität (auch nur potenziell) nichts zu schaffen hat, und alles das Genielose in M auf W zu schieben, geht doch wohl nicht an; dann müßte man manches entschieden maskuline Individuum frischweg als W ansprechen, was keinen Sinn hätte.  Weininger hätte hier eine genaue Scheidung von Männlichkeit und Genialität durchfuhren müssen, anstatt sie, allerdings mit Einschränkungen, gleichzusetzen.  Dies ist der größte Fehler seiner Theorie vom Genie und ein arges übel im ganzen System.  Eine starke Übertreibung liegt auch in dem Postulat des absoluten Gedächtnisses für den genialen Menschen.  Ich glaube, daß der Grad der Lebens-Erinnerungen, der ja an sich bedeutsam ist, auf viel speziellere psychologische Momente hinweist, und die Erscheinung, daß das Gedächtnis hochbegabter Menschen oft weit in die Kindheit zurückreicht, ist wohl eher ein Zeichen von Frühreife als von etwas anderem.  Es gibt eben schnellebende und langsamlebende Menschen; die ersten fangen bald an, sind „über ihr Alter“ reif und sterben oft zeitig; die zweiten entwickeln sich langsam, gehen bedächtig weiter und leben lange.  Zu ihnen gehören die vielen berühmten Leute, deren schlechte Schulzeugnisse als Kuriositäten vorgeführt werden; sie beweisen aber nichts, als daß sich der Achtzehnjährige erst im Entwicklungsstadium eines vielleicht Fünfzehnjährigen befand.[23]) So braucht die Eiche jahrzehntelang zu ihrer Ausreifung, manches andere Gewächs aber trägt schon im ersten Jahr Früchte. – Weininger hat ungeheuer schnell gelebt.  In einem Monat assimilierte er soviel geistige Inhalte und dachte selbständig soviel durch wie andere begabte Menschen in einem oder mehr Jahren.  Darum glaube ich auch, daß er als Dreiundzwanzigjähriger sein Leben vollbracht hatte; er fühlte kein Bedürfnis, alt zu werden, die Rezeptivität bot ihm keinen Reiz und sein eigenes Wesen war ganz gereift.  Die außerordentlich hohe Schätzung des Erinnerungsvermögens, das er mit Pietät gegen sich selbst, mit dem Aufsichnehmen aller eigenen Taten und Gedanken gleichsetzen, geht aber nicht zum geringsten auf das Modell zurück, mit dem, wie früher angemerkt, jeder Philosoph arbeitet: auf sich selbst.  Weininger hat ein ganz ungewöhnlich treues Gedächtnis besessen.  Kant, Wagner, lbsen, das Neue Testament (griechisch) und vieles andere wußte er in manchen Stücken halb auswendig, und von nicht wenigen Büchern, die er einmal gelesen oder exzerpiert hatte, vermochte er die Seitenzahl bestimmter Stellen anzugeben.  Auch kannte er sieben fremde Sprachen.  Sein allgemein bewundertes Wissen ist zum größeren Teil auf sein Gedächtnis, zum geringeren auf seinen Fleiß zurückzuführen. –

    Ich kann die Darstellung der Theorie vom Genie erst später vollenden, da das Verhältnis zwischen Genialität und Wert-Auffassung und die Lehre vom Mikrokosmos nicht hierhergehören, und gehe jetzt kurz auf die ganz eigentümliche Bedeutung ein, die Weininger dem Gedächtnis für die Psychologie der logischen Axiome begründet hat.  Das Gedächtnis ist die psychologische Voraussetzung dafür, daß die Identität der Objekte und des eigenen Ich in verschiedenen Punkten der Zeit erkannt wird.  Wenn ein Wesen gar kein Gedächtnis hätte, so wäre es nicht imstande zu konstatieren, daß der heute wahrgenommene Tisch mit dem gestern wahrgenommenen (von dem es ja nur durch die Funktion des Erinnerns weiß) ein und dasselbe Ding ist, daß überhaupt feste Gebilde der Außenwelt existieren.  Die Identität der Gegenstände mit sich selbst ist der Identität des Subjektes mit sich selbst korrelativ, beides stellt genau genommen eine Tatsache vor (und nicht zwei verschiedene Tatsachen), und so ist, um den ersten aller Denkakte, das Urteil A=A, zu vollziehen, das Vorhandensein einer Erinnerungsfunktion notwendig vorauszusetzen.  Ein Wesen ganz ohne Gedächtnis „würde im extremen Falle auch nicht imstande sein, die unendlich klein gesetzte Zeit zu überwinden, welche (psychologisch) jedenfalls erforderlich ist, um von A zu sagen, daß es im nächsten Momente doch noch A sei, um das Urteil der Identität A=A zu fällen, oder den Satz des Widerspruches auszusprechen, der voraussetzt, daß ein A (d. h. ganz allgemein, ein Gedanke oder ein Gegenstand) nicht sofort dem Denkenden entschwinde; denn sonst könnte es das A vom non-A, das nicht A ist, und das es wegen der Enge des Bewußtseins nicht gleichzeitig ins Auge zu fassen vermag, nicht wirklich unterscheiden“.

    Man darf nicht etwa glauben, daß Weininger mit dieser psychologischen Beleuchtung der logischen Sätze einer Anschauungsweise huldigte, die heute unter dem Namen „Psychologismus“ verbreitet ist und sich bestrebt, alles Logische überhaupt aus der Psychologie abzuleiten, und ihm nur die gewisse komparative Allgemeinheit zuerkennen will, die J. St. Mill zuerst auf die Bahn gebracht hat. (Humes Kritik hat vor der Mathematik Halt gemacht.) Weininger ist ein radikaler Gegner jedes Psychologismus (wobei ich allerdings nicht leugnen will, daß er mit seiner Verabsolutierung charakterologischer Wahrheiten und noch mit manchem anderem dieser fehlerhaften Methode mehrere Male verfallen ist; Weininger war eben seiner Veranlagung nach Psychologe, und nicht Logiker, ein komplizierter, kein einfacher Mensch); über seine Leistungen auf dem eigentlichen Gebiete der Logik werde ich noch sprechen.  Aber er weist mit vollem Recht darauf hin, daß die logischen Vorarbeiten auch in der Psyche des Menschen ihre Einordnung finden müssen, daß sie im Individuum leben.  In dem Menschen also, der kein kontinuierliches Bewußtsein seiner Vergangenheit besitzt, wie W, können auch die logischen Grundtatsachen nicht aktuell sein.  „Mit dem Gedächtnis erlischt auch die Fähigkeit, die logischen Funktionen auszuüben.“ „So präsentiert sich denn die Tatsache des kontinuierlichen Gedächtnisses als der psychologische Ausdruck des logischen Satzes der Identität.  Dem absoluten Weibe, dem jenes fehlt, kann auch dieser Satz nicht Axiom seines Denkens sein.  Für das absolute Weib gibt es kein Principium identitatis.“

    Ich habe mich bemüht, diese schwierige Materie deutlich zu machen; wer der Erkenntnistheorie fern steht, wird sie wohl nicht ganz erfassen, für den hat die Sache aber auch wenig Interesse. – W erkennt die logischen Axiome nicht als Kriterien für die Gültigkeit seines Denkens an; „der Mann fühlt sich vor sich selbst beschämt, er fühlt sich schuldig, wenn er einen Gedanken zu begründen unterlassen hat, weil er die Verpflichtung dazu fühlt, die logische Norm einzuhalten, die er ein für allemal über sich gesetzt hat.  Die Frau erbittert die Zumutung, ihr Denken von der Logik ausnahmslos abhängig zu machen.  Ihr mangelt das intellektuelle Gewissen.  Man könnte bei ihr von ,logical insanity' sprechen.“ Daher die Leicht- und Abergläubigkeit aller Weiber.  Sokrates und Cartesius haben den Irrtum als Schuld erkannt; jedes Vergehen gegen das Logische ist nicht nur Unwahrheit, sondern auch Unsittlichkeit.  So ist das Gedächtnis als psychologisches Korrelat der Möglichkeit allgemeingültiger, objektiver Existenz „zwar kein logischer und ethischer Akt, aber zumindest ein logisches und ethisches Phänomen“. (Auf den Zusammenhang zwischen Logik und Ethik, der hier ein wenig abrupt auftauchte, komme ich an seinem Orte zurück.) Wer aber wie W keine Beziehung zum Logischen hat, „bei dem kann man nicht von Irrtum und Lüge, sondern höchstens von Verirrtheit und Verlogenheit sprechen; nicht von antimoralischem, sondern nur von amoralischem Sein.  Das Weib ist also amoralisch.“ Es hat kein Verhältnis zur eigenen Vergangenheit, kann daher nicht die Verantwortlichkeit für die eigenen Taten auf sich nehmen, und mit diesem ethischen Grundphänomen fällt auch die Reue und das Schuldbewußtsein weg, die beide nur im Bejahen der eigenen Vergangenheit, in der Erinnerung hieran existieren.  So steht W auf dem Nullpunkt der Skala, die hinauf in die positiv moralische Region zum Genius, hinunter zum Verbrecher, zum antimoralischen Menschen führt.  Vielleicht hat Weininger in seiner Analyse des  Verbrechers, die hier folgen muß, weil der Verbrecher das polare Komplement des Genies ist, die tiefste aller seiner charakterologischen Erkenntnisse gegeben.  So wie überall, begnügt er sich nicht mit einer Phänomenologie des Typus, sondern verfolgt dessen psychologische Motive bis auf den Grund, zeigt seine Stellung zum Ganzen der Welt auf.

    Der männliche Verbrecher hat wie jeder andere Mann ein Verhältnis zur Idee des Wertes[24]); aber er verliert immer mehr seinen Willen zum Wert, „er kehrt sich immer mehr dem Nichts zu; versinkt in Nacht und Hilflosigkeit“.' Der Verbrecher urteilt nicht und wertet nicht, denn das sind alles Willensakte, er erwartet, von jedem anderen das Urteil über sich gefällt zu hören; er glaubt nie, daß ihm Unrecht geschehe, er fühlt sich immer schuldig und ertappt, wenn er auch gerade nichts Übles getan hat.  Der Verbrecher hat auf den freien Willen, auf die Autonomie, verzichtet, er ist Fatalist und steht unter dem Trieb zum absoluten Funktionalismus.  Er fürchtet sich, frei zu sein, allein zu sein[25]), er ist mit allen Menschen funktional verbunden als Despot oder als Sklave; als Zauberer will er jedes Naturding knechten (Baco von Verulam: Wissen ist Macht – Erkenntnis als Mittel anstatt als Selbstzweck – Zusammenhang mit den Teufelsmythen).  „Wo noch nicht dieser absolute Funktionalismus hergestellt ist, da haßt er, wie er sein eigenes intelligibles Wesen haßt, d. h. verneint; der Haß ist die Vorstufe des Mordes, wie die Liebe die Erzeugerin des Lebens.  Darum haßt der Verbrecher wütend den Gedanken an Unsterblichkeit (während der Genius das vollkommenste Unsterblichkeitsbedürfnis hat); denn Unsterblichkeit ist ein Spezialfall der Freiheit, nämlich Freiheit von der Zeit.“ Alles, was existiert, ist eine Widerlegung des Verbrechers (der prinzipiell immer der Vernichter, der Mörder ist), er will alles verneinen ' Gott töten.[26]) „O wenn ich die Welt vernichten könnte!  Maximos – gibt es kein Gift, kein verzehrendes Feuer, das das Geschaffene veröden könnte, wie an jenem Tage, da der einsame Geist über den Wassern schwebte?“ ruft Kaiser Julianus kurz vor seinem Tode (lbsen, „Kaiser und Galiläer“, Reclam, S. 262).

 

 

 

 

 

III. DIE PROBLEME WEININGERS AUS DEM GEBIETE DER NORMWISSENSCHAFTEN

 

A. ALLGEMEINE WERTTHEORIE

 

 

    Mancher wird in einem Buche, das sich hauptsächlich mit empirischen, allzu empirischen Dingen beschäftigt, das schon dem Titel nach der Psychologie anzugehören scheint, keine Darstellung von philosophischen Problemen suchen, und findet er sie vor, so ist er vielleicht geneigt, ihnen mit Mißtrauen zu begegnen.  Dieses oft begründete Vorurteil scheitert an „Geschlecht und Charakter“.  Der Erkenntnistheoretiker trifft in den Partien, die sich mit diesen Materien befassen (besonders in Kapitel 7 des zweiten Teiles und im Aufsatz über die Kultur, „Letzte Dinge“ S. 131-172, aber auch an vielen anderen Stellen), auf eine Fülle von originellen Gesichtspunkten und einige vollendete Deduktionen. Ja, die größte Bedeutung Weiningers liegt auf allgemeinphilosophischem Gebiete.

    Das größte Problem der wissenschaftlichen Philosophie ist das, eine letzte Position zu gewinnen.  Diese liegt für Weininger in dem höchsten Wert der Wahrheit, worin sich Logik, der Wille, wahr zu denken, und Ethik, der Wille, wahr zu handeln, treffen.  Beide sind „Pflicht gegen sich selbst.[27]) Sie feiern ihre Vereinigung im höchsten Werte der Wahrheit, dem dort der Irrtum, hier die Lüge gegenübersteht: die Wahrheit selbst aber ist nur eine.  Alle Ethik ist nur nach den Gesetzen der Logik möglich, alle Logik ist zugleich ethisches Gesetz.  Nicht nur Tugend, sondern auch Einsicht, nicht nur Heiligkeit, sondern auch Weisheit ist Pflicht und Aufgabe des Menschen: erst beide zusammen begründen Vollkommenheit“.  Der höchste Wert der Wahrheit –das ist die Vernunft Kants, die eine einzige als theoretische und als praktische Vernunft die Postulate der Logik und der Ethik in sich beschließt.

    Die Position über Logik und Ethik liegt im Transszendentalismus Kants, und zwar im Begriffe der Allgemeingültigkeit, der dem empirisch-psychologischen Gebiet für immer entrückt ist, eingeschlossen, ist aber, wie ich glaube, von ihm nie deutlich ausgesprochen worden. Weininger formuliert sie als Wahrheits-Postulat und macht so die notwendige Einheit des Denkens und Handelns vollkommen klar.  Neben diesem höchsten Wert steht aber „das erste spezielle Gesetz aller Werttheorie“: „Nur zeitlose Dinge werden positiv gewertet.“ Je weniger etwas Funktion der Zeit ist, je unveränderlicher es beharrt, um so höher wird es gewertet.  Es ist hier zum ersten Male klar herausgehoben, was allen Religionen und der ganzen idealistischen Philosophie samt der Mystik zugrunde liegt, und so stehe ich nicht an, in diesem Satze die bleibendste Leistung Weiningers für die Geschichte der Philosophie zu sehen.  Die Sehnsucht nach dem „ewigen Leben“, nach dem „absoluten Sein“, nach dem „Gleichförmig-Sein mit Gott“ nach den Ideen bei Platon und Schopenhauer, nach der „ewigen Wiederkunft“ bei Nietzsche, das ist die Höchstschätzung dessen, was der Zeit entrückt ist; diese Wert-Setzung ist so alt wie die indische Philosophie und hat im Christentum ihren lebendigsten Ausdruck gefunden; aber sie scheint nirgends als erstes Prinzip des Wertens ins Bewußtsein gehoben worden zu sein.  Damit steht im direkten Zusammenhang, daß die Funktion der Zeit von allen tieferen Menschen als das Übel in unserem Bewußtsein empfunden worden ist, als der Schleier, der uns den höchsten Wert, das ewige Leben verhüllt.[28])

    Weininger macht das Wertgesetz gleich für die Psychologie nutzbar und erkennt als letztes Motiv im Menschen den Willen zum Wert, der Nietzsches Willen zur Macht zweifellos an Allgemeingültigkeit und Tiefe übertrifft.  Ist doch die Macht nur ein Spezialfall des Wertes wie etwa das Bedürfnis nach Unsterblichkeit; dieses ist der Wille zum zeitlosen Sein, und so wie im Gedächtnis die Tendenz ausgesprochen liegt, die Vergangenheit zur Gegenwart, zur Wirklichkeit zu machen, d. h. ihren Zeitindex zu vernichten, „so darf auch das individuelle psychische Leben als Ganzes, soll es positiv bewertet werden, nicht Funktion der Zeit, es muß über die Zeit erhaben sein durch eine über den körperlichen Tod hinausgehende ewige Dauer“.  Wie sich die sozialen und geschichtlichen Wertschätzungen durch die Relation von Wert und Zeit erhellen, möge man bei Weininger nachlesen (Seite 168-181); die Lehre vom Genius empfängt da eine Bereicherung; er ist der Mensch mit dem mächtigsten Willen zum Werte[29]), „der eigentlich zeitlose Mensch“; was er betrachtet, erhält Bedeutung.  Aber dem großen Willensmenschen, dem Eroberer und dem Staatsmann ist dieser Titel nicht zuzusprechen, er steckt drin in der Zeit und wird von ihr verschlungen.  „Der bedeutende Mensch hat eine Geschichte (weil er sein Leben wertvoll, wertausstrahlend gestaltet), den Imperator hat die Geschichte.“ Nur der große Künstler und der große Philosoph haben Anspruch auf den Ehrennamen des Genius.  Am meisten aber der Religionsstifter. Weininger hat eine durchaus originelle Psychologie dieses seltensten aller Menschen gegeben, über deren Richtigkeit ich mir kein Urteil anmaßen kann.  Sein Prinzip der Gegensätze im Bewußtsein wird hier fruchtbar.  Es ist zweifellos eine sehr tiefe Anschauung (ich habe sie schon einmal berührt), daß für jeden Menschen eine Gefahr bestehe, und je größer er ist, desto gewaltiger ist auch seine Gefahr.  „Alles Genie ist Überwindung eines Nichts, eines Dunkels, einer Finsternis, und wenn es entartet und verkommt, so ist die Nacht um so schwärzer, je strahlender früher das Licht war.“ Chaos des Logischen, das ist der Irrsinn, wird meist die Gefahr des Erkenntnistheoretikers sein, der ein riesiges Denkgebäude aufführt, um sich hinein zu retten (das Chaos war auch die Gefahr des Logikers unter den Musikern, J. S. Bachs).  Die Vernichtung des Ethischen, das Verbrechen, ist die Gefahr des Moralisten und des Heiligen, der es ja meist mit dem „Vater der Lüge“ (Lüge = Urverbrechen), dem Teufel, zu tun hat.[30]) So glaubt Weininger, daß der Religionsstifter derjenige Mensch sei, der das größte Nichts in sich überwunden, „der ganz gottlos gelebt und dennoch zum höchsten Glauben sich durchgerungen habe“.  Das Wunder der „Wiedergeburt', das ewige Staunen des Mystikers, hat sich in ihm radikal vollzogen.  „Je größer ein Mensch werden will, desto mehr ist in ihm, dessen Tod er beschließen muß.“ „Ein jeder hat irgendwie bei der Geburt danebengegriffen, sich mit irgendwelcher Sünde beladen.  Nur formal ist die Erbsünde die gleiche, material ist sie für einen jeden eine verschiedene.“ „Nur der Religionsstifter allein hat die Erbsünde ganz begangen, und sein Beruf wird es, sie ganz zu sühnen: in ihm ist alles, ist das All problematisch, aber er löst auch alles, er erlöst sich zum All.  Er beantwortet jedes Problem und löst sich ganz von der Schuld.“ „Christus ist der Mensch, der die stärkste Negation, das Judentum, in sich überwindet, und so die stärkste Position, das Christentum, als das dem Judentum Entgegengesetzteste schafft.“ Will man Geschichtsphilosophie treiben, so wird sich freilich die Frage nach dem Zweck des Judentums in der Welt nicht großartiger beantworten lassen, als es hier geschehen ist.  Das Judentum als der Abgrund, der sich nie schließt, der immer und ewig die Gefahr bleibt, worein der Christ verfallen kann, das Chaos, das er fürchtet.  „Christus ist der größte Mensch, weil er am größten Gegner sich gemessen hat.“

 

 

B. LOGIK

 

    Weininger hat zuerst den Versuch gemacht, aus dem Satz der Identität A=A, der die Konstanz des Denkens zu verbürgen hat, ein absolutes Sein (ähnlich wie Fichte) zu deduzieren.  Er meinte, das Urteil der Identität gälte unabhängig davon, ob etwas existiere, es behaupte nicht das Sein von A (d. h. von irgend etwas Konkretem), sondern nur das Sein überhaupt, und zwar das Sein nicht als Objekt (weil dies ja einen Gegenpart beanspruche), sondern das Sein des Subjektes: Ich bin.  Er ist so zu einer Ich-Philosophie gekommen, die Fichte nahesteht, hat aber den Beweis dann (Anm.  S. 540) als unhaltbar aufgegeben und die Monadologie als metaphysische Lehre behandelt; hierauf komme ich noch zurück.  Der Gedankengang: ist mit dem Identitätssatz ein Sein überhaupt gesetzt, so ist es nur ein Sein als Subjekt, läßt sich nicht mehr logisch, sondern nur psychologisch dadurch begründen, daß die logische Norm dem Menschen nicht von außen kommen könne, sondern nur von innen.  Der Idealismus postuliert: Ist überhaupt etwas, so kann es nur das Subjekt sein.  Da Weininger allen Psychologismus für falsch hielt, wollte er dieses argumentum ad subjectum nicht bestehen lassen und beschränkte sich darauf, aus dem Satz ein „absolutes, an sich seiendes Sein“ herauszulesen, was er aber dann nicht wesentlich verwertet hat.  Meiner Überzeugung nach ist alle Logik nur zur Konstitution des Erfahrungsseins verwendbar, und so muß das Absolute fortbleiben.

    Abgesehen von diesem Versuch, die Logik zu verabsolutieren, steht Weininger im Prinzipiellen dem Transszendentalismus nahe; er betrachtet den Satz der Identität als „unmittelbar gewiß und evident“, eines Beweises weder bedürftig, noch auch zu beweisen möglich.  In dem schönen Aufsatz über „Wissenschaft und Kultur“ wird die Überzeugung begründet, daß alle Logik auf Glauben beruhe.  „Es gibt nur ein freies Glauben der Logik (wie ein freies: Wollen der Ethik)“, und so läßt sich Wissenschaft überhaupt nur auf dem Glauben an die logischen Prinzipien begründen.  Sigwart nimmt in dieser Frage einen ähnlichen Standpunkt ein, ohne aber die Konsequenzen für die Wissenschaft daraus zu ziehen.  Er spricht von der „Fähigkeit, objektiv notwendiges Denken von nicht notwendigem zu unterscheiden, und diese Fähigkeit manifestiert sich in dem unmittelbaren Bewußtsein der Evidenz, welches notwendiges Denken begleitet.  Die Erfahrung dieses Bewußtseins und der Glaube an seine Zuverlässigkeit ist ein Postulat, über welches nicht zurückgegangen werden kann“ (Logik, 12, S. 15).  Weininger führt in dem erwähnten Aufsatz alle Wissenschaft auf Religion zurück und unternimmt so eine Theorie der Wissenschaft; daß der Mensch das Wahre (die Logik) und das Gute (die Ethik)[31]) wollen müsse, läßt sich nicht weiter beweisen.  Die Logik verneinen, hieße den Irrsinn wählen, die Ethik verneinen, die Sünde wählen.  Wer da zweifelt, „der ist eines Dinges nicht teilhaft geworden: der Gnade“.

    Aller Irrtum ist Schuld, und der Mensch soll die Wahrheit finden.  Er ist in die Irrtümer und Zufälligkeiten des Psychologischen verstrickt, und um so näher kommt er der Wahrheit, je mehr er sich der Idee des Menschen angleicht, die ihre ähnlichsten Verkörperungen im genialen Menschen findet.

 

 

 

C. ETHIK

 

    Der heilige Hieronymus hat in dem Satze „Nicht vollkommen sein wollen heißt sündigen“[32]) das Wesentlichste aller echten Ethik ausgesprochen.  Wäre unsere Zeit nicht radikal verflacht, so dürfte die Lehre, daß jede Ethik in der Persönlichkeit wurzeln müsse, als ein Gemeinplatz angesehen werden, den auszusprechen kaum ein Bedürfnis bestünde.  „Wahrheit, Reinheit, Treue, Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber: das ist die einzige denkbare Ethik.  Es gibt nur Pflichten gegen sich, Pflichten des empirischen gegen das intelligible Ich, welche in der Form jener zwei Imperative auftreten, an denen aller Psychologismus immer zuschanden wird: in der Form der logischen und der moralischen Gesetzlichkeit.“ Weininger weist alle Versuche, die Moral aus etwas anderem, fremdem abzuleiten, schroff zurück.  Da die Moral der letzte Grund des menschlichen Handelns sein muß, Zweck an sich selbst, ist es ein Ungedanke, sie von außen in den Menschen hineinbringen zu wollen; sie kann nur der Persönlichkeit entspringen und ist das letzte Maß, das an alles gelegt werden kann.  Weininger hat hier den Grenzübergang gemacht und an Stelle des kantischen Postulates die metaphysische Existenz des intelligiblen Ichs, der Seele, angenommen.  Er steht Leibniz nahe, für den die Seelenmonade „un monde entier plein d’une infinite“ ist.  Nur wer der Existenz seines eigenen Ichs gewiß ist, der fühlt, daß auch der andere ein Ich, eine Monade, ein Zentrum der Welt sei; nur der wird „davor gefeit sein, den Mitmenschen bloß als Mittel zum Zweck zu benützen“, er achtet in ihm „die Persönlichkeit als Teil der intelligiblen Welt“.  „Psychologische Grundbedingung alles praktischen Altruismus ist daher theoretischer Individualismus.“ Es stellt sich so heraus und ist zweifellos wohl begründet, daß eine Individual-Ethik keine egoistische ist (wie manche Interpreten Zarathustras zustimmend und die Gattungsethiker ablehnend glauben), sondern erst die haltbare Voraussetzung der Gemeinschafts-Ethik. Wer an das eigene Ich nicht glaubt, kann es nicht ehren, und hat gewiß keine Veranlassung, es im andern zu ehren.  Ein Bündel von Empfindungen ist kein Gegenstand für die Betätigung ethischer Gesinnung.[33])

    Was es aber mit diesem echten Individualismus für eine Bewandtnis hat, wie es geschehen mag, daß mit einem Male der Wille zur Lust, der alles Lebende beherrscht, gebändigt wird und durch die Persönlichkeit (das, was diesen Namen verdient) überwunden, daß jetzt der Wille zum Wert, zum höchsten Wert, die „Achtung für das Gesetz“ (Kant) letztes Motiv wird; das läßt sich nicht weiter ableiten oder erklären.  Kierkegaard nennt diesen spontanen Akt den „Sprung“, Entweder – Oder heißt seine Devise, und Kant sagt hierüber: „Der Mensch, der sich eines Charakters in seiner Denkungsart bewußt ist, der hat ihn nicht von der Natur, sondern muß ihn jederzeit erworben haben.“ (Anthropologie, 1800, S. 268.) Diesen Sprung, den Übergang vom natürlichen Menschen, der von den Motiven seiner Anlage vollkommen bestimmt ist, zum „neuen“ Menschen, der einen „Charakter“ auf Prinzipien gründet (nach den Worten Kants), das Auftreten der bewußten Autonomie, die von da an als einziges berechtigtes Motiv das Wollen bestimmt und alle Handlungen, die aus dem Wiederhervorbrechen der natürlichen triebhaften Anlage entspringen, als Fehler, als „Fall“ empfindet; diesen Akt der „Wiedergeburt“ hat der indische Buddhismus in der Tradition vom Prinzen Gôtama, der in einer Nacht umgewandelt die Welt verließ, sich selbst zu finden, das Christentum durch die Lehre vom „Adam“, der durch den „Christus“ überwunden wird, in den Mittelpunkt der Ethik gestellt.  Er ist das unerschöpfliche Thema aller religiösen Mystik.  Weininger sagt darüber: „Es gibt jedoch einen Akt, welcher die Zukunft sozusagen in sich resorbiert, allen künftigen Rückfall ins Unmoralische bereits als Schuld vorausempfindet (man beachte die Erweiterung des Gedankens! d. V.), nicht minder als alle unmoralische Vergangenheit, und dadurch über beide hinauswächst: Eine zeitlose Setzung des Charakters, die Wiedergeburt.“

    Es ist vielleicht die größte Erkenntnis Weiningers, die für die Psychologie der Moral weittragende Folgen haben muß, hier, wo alles so wenig greifbar ist, einige Sätze gefunden zu haben.  Es besteht eine eigentümliche Korrelation zwischen den Funktionen des nuranimalischen, respektive pflanzlichen Lebens (im Menschen) und denen des höheren, des „zweiten Lebens“.  Lust und Trieb sind die Motive alles Organischen, dessen, was geformt, aber nicht (im Sinne Kants und des Christentums) beseelt ist; da überbaut eine höhere Eigenschaft, die doch der niederen verwandt ist, die erste; was Lust war, wird Wert, was Trieb war, (bewußter) Wille.  Wo nur das Individuum (das heißt organisch unteilbares Existieren) bestand, tritt Individualität auf (das heißt einheitliches, autonomes Sein mit voller Bewußtheit), wo nur Geschlechtstrieb existierte, tritt Liebe hinzu.  Die höhere Seinsform ersetzt die niedere nicht, „es ist gleichsam, als wäre jeder bloß tierischen Eigenschaft im Menschen eine verwandte und doch einer höheren Sphäre angehörige Qualität superponiert. Jene niederen Eigenschaften fehlen dem Menschen keineswegs, allein es ist zu ihnen in ihm etwas hinzugekommen.“ „Neben dem organischen hat der Mensch noch teil an einem anderen Leben, der ¶É¯ ±? Îv¹o des neuen Bundes.“

    Was hier versucht ward, ist die präzise Fassung des tiefsten Menschenproblems, des der Erbsünde. Warum das höhere Leben sich mit dem niederen beschwert hat, warum der Geist sich im Fleische inkarniert, warum das Sein zum Nichtsein will, ist das Rätsel der Welt selbst und das Unbegreifliche x±Ä ­o¾oÇ®v. Aber wie dieser Zustand im Psychischen sich weist, wie der Dualismus der Welt sich zur Tragik im Menschen gestaltet, darauf wirft diese Gegenüberstellung einiges Licht.  Doch Weininger ist hier dem Urrätsel noch um einen Schritt näher gerückt.  Er zeigt, warum sich das letzte Problem prinzipiell nicht lösen läßt, warum das Motiv des Sündenfalles nicht erforscht werden kann.  „Ich kann eine Sünde erst erkennen, wenn ich sie nicht mehr begehe.“ „Darum kann ich das Leben nicht begreifen, solang ich das Leben begehe.“ „Es ist gar kein Augenblick noch gewesen, in dem ich nicht auch nach dem Nichtsein (d. h. nach der Bejahung des niederen materiellen Lebens, dessen, was Platon Äò ¼1 ov nennt, d. V.) verlangt hätte; wie hätte mir also dieses Verlangen Objekt der Betrachtung, wie Gegenstand der Erkenntnis werden können? Was ich erkannt hätte, außerhalb dessen stünde ich ja schon: meine Sündhaftigkeit kann ich nicht begreifen, weil ich noch immer sündhaft bin.  Das ewige und das niedere[34]) Leben sind nicht nach, sondern nebeneinander, und die Präexistenz des Guten ist eine dem Werte nach.“

    Die moderne Psychologie hat von dem Phänomen der „Wiedergeburt“, das doch oft beschrieben wurde, kaum Kenntnis genommen, denn das Kapitel über „Sittlichkeit“, das in den meisten Büchern vorkommt, wird dafür nicht gehalten werden können.  Die sonst gut anwendbare Methode, alle seelischen Zustände als aus unmerklich kleinen Unterschieden aufgebaut zu denken, die ein Postulat aller Wissenschaftlichkeit in diesem Gebiete bildet, versagt hier durchaus, und zwar nicht, wie auf manchen anderen Punkten, wegen der Unmöglichkeit, Beobachtungen zu sammeln, sondern aus einem prinzipiellen Grunde.  Der Sprung, der Schopenhauern nicht umsonst ein Wunder, ja das Wunder heißt, läßt sich nur konstatieren, beschreiben, aber in seine Motive einzudringen, sein Hervorgehen aus dem Komplex des seelischen Getriebes wissenschaftlich verständlich zu machen, scheint unmöglich.  „Erziehung, Beispiele und Belehrung können diese Festigkeit und Beharrlichkeit in Grundsätzen überhaupt nicht nach und nach, sondern nur gleichsam durch eine Explosion bewirken“ (Kant, Anthropologie, S. 269).  Die Mathematik kennt zwar in den unstetigen Funktionen etwas, was einer „Explosion“ entspricht.  Aber die Psychologie ist da noch immer ohnmächtig gewesen.  Sie will so, wie es scheint, exakter sein als die Mathematik.

    Man mag über dieses Vorkommnis im Seelenleben mancher Menschen (den meisten bleibt es wohl fremd) denken, wie man will, man mag es als Einströmen der „Gnade“ ansehen, oder lieber mit der bewährten Terminologie der Psychiatrie herantreten: alles das ist schon Theorie über ein Phänomen; das Phänomen selbst aber besteht, ob es wissenschaftlich erfaßt wird oder nicht.

    Inwiefern dieser Akt verwandt oder gar identisch sein mag mit dem psychischen Erlebnis, auf das Weininger sehr großes Gewicht legt, da ein Mensch plötzlich zum Bewußtsein kommt, daß er sich von der Umgebung ganz spezifisch unterscheide, daß er „ein Ich“ sei, darüber wage ich nichts auszumachen.  Vielleicht sind beide die abstrakte und die konkrete Fassung desselben Ereignisses.  Auch dies ist ein plötzlicher Vorgang (Weininger zitiert S. 214 und 215 drei schöne Schilderungen davon nach Jean Paul, Novalis und Schelling und gibt selbst eine vierte[35]), und daher der Stetigkeits-Psychologie und der, die es sein will, unfaßbar; das „Ich-Ereignis“ allein aber könnte zu einer Psychologie der unstetigen Seelenfunktionen[36]) führen, von der einiges für die Zukunft zu erhoffen ist.

    Diese Dinge ließen sich aber versuchsweise für die Individual-Psychologie so kennzeichnen: Bis zu dem Moment, da das Kind sein Ich entdeckt, da es nicht mehr in der dritten Person von sich spricht („Karl hat Hunger“), sondern in der ersten (was bei den meisten Kindern wohl zunächst aus imitatorischen Beweggründen geschieht), ist es dem Begriff nach noch kein Mensch, sondern genau genommen Glied der Tierheit.  Dies stimmt ja mit Haeckels phylogenetischem Grundgesetz gut zusammen, zumal das Leben im Mutterleib dem unbewußten, untertierischen, vielleicht pflanzenhaften Leben entspricht.  Mit dem Eintritt der Ich-Gruppierung der Vorstellungen, mit dem Durchbruch des psychischen Subjektes beginnt das Stadium des Mensch-Seins, dem in den Menschen mit dem „Sprung“-Erlebnis noch ein Stadium als „Charakter“ folgt.  Ein Überschreiten dieser Seinsart ist im Leben nicht möglich, weil das Materielle, selbst als Erdenrest; zu tragen peinlich ist.  Eine weitere Ausführung dieser Anregungen behalte ich mir vor.

    Wo die Psychologie auf dem Standpunkt verharrt, daß der Durchschnittsmensch die Elle sei, die überall obligatorisch anzulegen ist, da handelt sie zwar dogmatisch und unlogisch (weil der Durchschnittsmensch noch erst zu bestimmen ist), aber doch in ihrem Sinn folgerichtig, wenn sie das Auftreten des Mittelpunktes im seelischen Leben[37]), der grammatikalischen ersten Person, als „gesund“, das Auftreten des höheren Ich (notabene, wo es zu ihrer Kenntnis kommt) als „krank“ charakterisiert.  Wenn also irgendeine Höherbildung der Menschheit anzunehmen sein sollte, so wird die Wissenschaft immer die Keime zur Höherentwicklung (sowie auch die atavistischen und sonstigen Rückbildungen) als krank, den durchschnittlichen Menschen aber als gesund, das heißt nach ihrer Wertungsmethode als „gut“ betrachten.  Hieraus geht aber mit zwingender Konsequenz hervor, daß die Affenmenschen noch keine Wissenschaft in unserem Sinne gehabt haben können, denn sonst hätten sie das Entstehen der Menschen zu verhindern gewußt. –

 

 

    Wie Weininger die Anwendung der ethischen Forderungen auf die Frauen, denen er ja eine wesenhafte Beziehung zum Sittengesetz abgesprochen hat, durchführt, werde ich später zeigen.  Sein absoluter Rigorismus, der auf ethischem Gebiete keine Konzession zuließ, und der mit Kant die Notlüge für genau so verwerflich ansah wie jede andere Lüge, hat hier eine Lösung gefunden, die vollkommen konsequent, aber entschieden paradox ist.  Wenn die Ethik nicht Anhängsel der Psychologie sein soll, sondern Normwissenschaft und Schwester der Logik, dann darf es prinzipiell keine Ausnahme von der Norm geben. Was in der Logik Ausnahme heißt, das ist in der Ethik Sünde. Denn eine jede Sünde ist, psychologisch aufgefaßt, eine Ausnahme: nur heute; einmal ist keinmal (die kürzeste Formel für Unlogik und Unmoral).  Alle Tugend ist eine: Wahrheit, Treue.  Alle Sünde eine: Lüge, Treubruch.  Nicht vollkommen sein wollen heißt sündigen (S. 106).  Wie Kant und Fichte in dieser Sache denken, weiß man.  Kierkegaard sagt puncto Logik: „Die Wahrheit hat jederzeit mancherlei hochtrabende Verkündiger gehabt; die Frage ist aber, ob ein Mensch im tiefsten Sinne die Wahrheit erkennen, ob er von ihr sein ganzes Wesen durchdringen lassen, alle ihre Konsequenzen annehmen will oder ob er nicht im Notfall für sich einen Schlupfwinkel reserviert und für die Konsequenz einen Judaskuß hat.“ Und puncto Ethik: „Je idealer die Ethik ist, desto besser ist sie.  Sie lasse sich nicht durch das Geschwätz stören, daß es doch nichts helfe, das Unmögliche zu fordern; auch nur auf solches Gerede zu hören, ist unethisch.“ Die Frage ist jetzt nur noch, ob sich: leben und nach den Postulaten der Ethik leben, vertragen könne.  Weininger hat mit Nein geantwortet.

    So wie die Lustphilosophie ist auch ihr kontradiktorisches Gegenteil, die Unlustphilosophie, die Askese, verwerflich.  Denn nicht minder als erstere sucht sie den Maßstab „in einer Begleiterscheinung und äußeren Folge der Handlung, nicht in der Gesinnung: sie ist heteronom.  Der Mensch darf die Lust anstreben, er mag sein Leben auf der Erde leichter und froher zu gestalten suchen: nur darf er dem nie ein sittliches Gebot opfern.  In der Askese aber will der Mensch die Moralität erpressen durch Selbstzerfleischung, er will sie als Folge eines Grundes, die eigene Sittlichkeit als Resultat und Belohnung dafür, daß er sich soviel versagt hat.  Die Askese ist demnach als prinzipieller Standpunkt wie als psychologische Disposition verwerflich.“ „An sich ist die Lust weder sittlich noch unsittlich.  Nur wenn der Trieb zur Lust den Willen zum Wert besiegt, dann ist der Mensch gefallen.“

 

 

 

IV. METAPHYSIK ODER PERSONLICHKEITS-PHILOSOPHIE

 

    Die folgenden Bemerkungen sind nicht zugunsten Weiningers gesprochen, sondern möchten eine allgemeinere Bedeutung in Anspruch nehmen.  Das Wort „Metaphysik“ ist heute gewissermaßen zur Vogelscheuche geworden, womit man ernsthafte Leute schrecken kann.  Daß Metaphysik in der Wissenschaft keine Stelle hat, darüber ist man sich ja seit langem klar; aber weniger klar denkt man vielfach über etwas anderes, nämlich über den Wert der Wissenschaft. Wissenschaft ist nicht das Universum alles Existierenden, sondern nur ein einzelner Zweig in dem System des objektiven Geistes, das wir Kultur nennen.  Andere Zweige sind Kunst und Religion.  Voraussetzung einer wahren und voll ausgebildeten Kultur ist aber die Existenz großer Persönlichkeiten, die ihr Richtung und Ideal zeigen, ihre Inhalte gestalten und ordnen.  Weil am Ende des 18. Jahrhunderts einige Genies ersten Ranges lebten, darum stand die deutsche Kultur damals auf ihrem Gipfel, und weil heute die große Persönlichkeit, vor allem aber der große Philosoph fehlt, wird sie immer mehr durch den zivilisatorischen Wissensbetrieb ersetzt, der sich vom Ganzen der Kultur loszulösen trachtet.  Die Wissenschaft hat aber nur als Bestandteil, nie als Ersatz des ganzen Geisteslebens Berechtigung.  Nur der einzelnen, hoch veranlagten philosophischen Persönlichkeit ist es gegeben, die ganze Welt in einer großen Synthese zusammenzuschließen; dieses Weltbild wird die Hand ihres Schöpfers immer deutlich aufweisen.  Ich glaube, daß es durchaus zutreffend wäre, die umfassende systembildende Geistestätigkeit, die zur Schöpfung und Befruchtung aller Kultur notwendig ist, und notwendiger als ein ins speziellste ausgebautes System der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen, die metaphysische zu nennen und so als Metaphysik die Persönlichkeits-Philosophie, das Weltbild des großen Philosophen, zu bezeichnen.  Wer Sinn für Kultur hat, wird nicht leugnen wollen, daß es die bedeutende Individualität ist, die einer Epoche die eigentümliche Färbung erteilt; diese Eigenart unterscheidet sie von allen Gebilden ähnlicher Art, die von anderen Persönlichkeiten gerichtet wurden.[38]) So ist an seinem Verhältnis zum Kulturganzen aller Alexandrinismus, also auch der moderne enzyklopädische Positivismus als ein Erzeugnis des mangelnden Sinns für Kultur, als Unverständnis für das Wertvolle zu bezeichnen.  Die metaphysische Gestaltungskraft Schellings z. B. (dessen Bedeutung für die Wissenschaft nur gering sein mag, wenn auch nicht so gering wie man heute allgemein glaubt) hat unserer ganzen romantischen Kultur, Goethe voran, einen Rahmen geschaffen.  Es ist ein arges Zeichen von Barbarei, daß heute die Metaphysik von manchen Seiten totgesagt wird, findet aber dadurch eine gewisse Entschuldigung, daß eine eigentliche kulturgestaltende Philosophie gegenwärtig nicht existiert (man wollte denn die Ansätze bei Nietzsche dafür nehmen).  Die Philosophie des Unbewußten, die noch am meisten Kraft zu entfalten schien, kann doch wohl nur als ein Nachhall der Romantik angesehen werden.

    Ein wirklich großer Mensch kann, so paradox es klingen mag, dort, wo er genial ist, für die Einzel-Wissenschaft überhaupt nichts leisten.  Denn die Wissenschaft ist ihrem Wesen nach unpersönlich, was in wissenschaftlichen Büchern Persönliches steht, gehört gar nicht zur Wissenschaft, und jeder Eigenname ist da von Übel.[39]) Sie ist nur ein System objektiver Funktional-Zusammenhänge ohne jede Beziehung auf einzelne Menschen, und der Stolz des echten Wissenschaftlers ist es auch, hinter der Sache zu verschwinden.  Der wahrhaft große Mensch ist aber groß durch seine exemplarische Persönlichkeit und als Persönlichkeit.  Alles, was von ihm ausgeht, ist von seiner Art durchtränkt und ist darum wertvoll.  Einem genialen Menschen vorwerfen, er habe für die Wissenschaft eigentlich nichts Wesentliches geleistet (nämlich nichts im einzelnen, denn zur ganzen Wissenschaft hat er meist ein tiefes Verhältnis, das ihr zugute kommt; weil er so aber allgemein befruchtet, sieht man es am Einzelnen nicht), heißt einfach, ihm seine Genialität zum Vorwurf machen.  Was er gelebt und gesagt hat, dem kommt objektiver Wert zu, und zwar im philosophischen und kulturellen Sinn.

    Die unvergleichliche Bedeutung der Wissenschaft aber besteht darin, daß sie das System des objektiven Geistes zu konstituieren hat.  Sie ist immer notwendig, auch für den philosophischen Genius und besonders für ihn, um an der Objektivität nicht zu schwanken, sich nicht ins Unwahre zu verlieren.  Die Sehnsucht nach dem Traum, nach dem Nicht-Wirklichen, nach dem Irrsinn liegt in den geheimen Seelenfalten vieler tiefer Menschen verborgen, und manches Kunstwerk ist ihr entsprungen.  Dem nur-wissenschaftlichen Menschen bleibt dieser Trieb fremd; er kennt nicht den schwindligen Abgrund des Unlogischen, den lockenden Reiz am Rande des Nichts, und darum auch kaum die brünstige Liebe zur Wahrheit, die den echten Philosophen auszeichnet.  Denn nur wer versucht wird, glaubt ganz.  Darum will der Philosoph immer zum Unerschütterlich-Festen, zum Logischen, zum Absoluten, und kann den Relativismus, den Psychologismus nicht ertragen, bei dem sich der wissenschaftliche Mensch beruhigen mag.[40]) Darum braucht gerade der große Metaphysiker die Wissenschaft notwendiger als jeder andere; er muß wissen, daß ihm die Objektivität verbürgt ist, jede Lücke, die sich aufzutun scheint, ist ihm unerträglich, und darum wird er eben zum Metaphysiker, weil ihm die Wissenschaft nie fest genug gegründet ist.  Er will hinab zu den Müttern, will alles Sein fester stützen, die Logik beweisen, die Ethik unerschütterlich fundieren.  Und dieser Wille zur absoluten Sicherheit auf jedem Schritt ist seiner Furcht vor der Lüge, vor der Sünde entsprungen.  Es ist daher eine ganz oberflächliche Meinung, die im metaphysischen Konstruieren Leichtfertigkeit, Gewissenlosigkeit sieht.  Nur wem die Wissenschaft als solche nie Problem geworden ist, wer mitten drinnen ein Eckchen bestellt, und nicht über den Zaun sehen will oder kann, nur der wird so denken.  In Wirklichkeit aber ist der echte Metaphysiker der Mensch mit dem allerstärksten wissenschaftlichen Bedürfnis, mit dem mächtigsten Willen zur Wahrheit – auch wenn er im Leben keinen haltbaren wissenschaftlichen Satz findet.  Denn so, wie sich der wissenschaftliche Mensch das zum Problem macht, was dem gewöhnlichen Menschen selbstverständlich erscheint, so wird dem Philosophen fraglich, was dem Wissenschaftler als selbstverständlich gilt.

 

 

 

A.  DER MENSCH ALS MIKROKOSMOS UND DIE NATUR ALS SYMBOL

 

    Wie schon angedeutet, hat Weininger ein intelligibles Ich, eine Seelen-Monade im Sinne Leibnizens als das Wesen des Menschen, eigentlich des Mannes aufgestellt.  Dieses Ich ist um so bewußter, um so wirksamer, je genialer, d. h. je bewußter, je zeitloser ein Mensch lebt; wie Weininger das Bewußtwerden des Ich (das früher nicht im metaphysischen Sinn zu verstehen war) ausdeutet, habe ich schon erwähnt.  Aber Genialität ist eine Idee, der jeder Mensch näher kommen kann, und die keiner jemals ganz erreicht.  „Der bedeutende Mensch hat die ganze Welt in sich, der Genius ist der lebendige Mikrokosmos.“ „Genial ist ein Mensch dann zu nennen, wenn er im bewußten Zusammenhang mit dem Weltganzen lebt.“ Und darum ist höchster Individualismus mit höchstem Universalismus identisch, denn je größer die Seele, desto mehr vom All lebt in ihr aktuell und nicht nur potenziell.

    Alles, was früher über Genialität gesagt wurde, kann erst jetzt zum Abschluß gebracht werden, denn für Weininger ist der Genius die höchste Daseinsform des Menschen überhaupt, nichts Spezielles in dieser oder jener Richtung.  „Der Genius offenbart ganz eigentlich die Idee des Menschen.“ Mit dieser Fassung der Genialität ist zweifellos das Allgemeinste ausgesprochen, da sie nicht mehr auf einzelne Bestimmungen, sondern auf die Idee im Sinne Platons zurückgeht.  Das Problem der Genialität wird mit dein Problem der Menschheit identisch.  Genialität ist so als eine Richtung, keine Geisteseigenschaft, als eine Aufgabe für jeden Menschen ausgesprochen, die aber nur der „geniale“ Mensch voll auf sich genommen hat.  Er trägt die „universelle Verantwortlichkeit“ und hat das Mensch-Sein am tiefsten erfüllt.  Und weil Christus die größte Verantwortung übernommen hat, die Schuld für alle Menschen, darum kommt er der Idee des Menschen, das heißt dem Gottmenschen, am nächsten.

    Erst jetzt ist es gerechtfertigt, daß ich Weiningers Theorie vom Genie die umfassendste und vollkommenste von allen existierenden genannt habe.  In dem hier vertretenen Sinne ist aber jeder bedeutende Mensch Platoniker.[41]) Die Idee ist ihm, wenn auch nicht bewußt, Leitfaden seines Tuns und Denkens.  Die zutreffendste Definition der platonischen Idee eines Dinges möchte aber die als Gesetz seiner eigenen Vollendung, als Möglichkeit seiner Entelechie sein.  Auf moralischem Gebiete heißt das Gesetz der Vollendung Postulat der Vollendung, und so ist z. B. der kategorische Imperativ Kants eine Formulierung der platonischen Idee des Menschen für die Ethik.  Die gleiche Idee meint Angelus Silesius mit den Worten: Mensch, werde wesentlich. –

 

 

    Ungefähr ein Jahr vor seinem Tode hat Weininger den Plan zu einer universellen Symbolik gefaßt.  Der Grundgedanke und einige wenige Bruchstücke sind in dem Abschnitt „Metaphysik“ („Letzte Dinge“, S. 113-130) niedergelegt.  Die Voraussetzung dieses Gedankens ist die Theorie vom Menschen als dem Mikrokosmos.  „Da der Mensch zu allen Dingen in der Welt ein Verhältnis hat, so müssen alle Dinge derselben schon in ihm irgendwie vorhanden sein.“ „Das System der Welt ist identisch mit dem System des Menschen. Jeder Daseinsform in der Natur entspricht eine Eigenschaft im Menschen, jeder Möglichkeit im Menschen entspricht etwas in der Natur.  So wird die Natur, alles Sinnliche, Sinnenfällige in der Natur gedeutet durch die psychologischen Kategorien im Menschen und nur als Symbol für diese betrachtet.“ Von dem ganzen Gedanken ist nur weniges ausgeführt worden; in den fremdartigen und unheimlichen Gestalten der Tiefseefauna schien Weininger das Böse schlechthin, im Hunde Verbrecherisches, im Pferde der Irrsinn symbolisiert zu sein.  Da für die Mikrokosmos-Lehre die ganze Natur gewissermaßen nur der erweiterte Sinn des Menschen ist, so haben alle ihre Bestandteile auf ihn Bezug.  Eine Bestätigung oder Widerlegung der einzelnen Intuitionen ist natürlich nicht möglich; für meine Person bemerke ich, daß mir der Gedanke, im Pferde habe sich der Irrsinn gewissermaßen verkörpert, einen starken Eindruck machte, als ich ihn zum erstenmal von Weininger vernahm.  Wer jemals die wahnsinnige Angst gesehen hat, die aus dem Blick eines scheu gewordenen Pferdes spricht, wird dies vielleicht begreifen.  Es ist ja immerhin möglich, daß da ein erleuchtetes Auge hinter die Geheimnisse der Dinge wie durch ein Loch im Theatervorhang gespäht hat; aber solche Eindrücke bleiben doch subjektive Gebilde.  Hätte Weininger die ganze Theorie dem Gebiete der Symbolik gewahrt, so könnte sie. (gleich ähnlichen Anregungen bei Swedenborg und Novalis) als wertvoller Versuch in dunklen Regionen gelten.  Doch seine Anlage hat ihm hier einen Streich gespielt: er vergaß bald, daß er Symbolik treiben wollte, und verfiel wieder in die Psychologie, in der ja seine größte Kraft wurzelte.  Anstatt im Hund etc. das Symbol des Verbrechens zu suchen, ging er in der Psychologie des Hundes auf verbrecherische Züge aus und geriet so aus Symbolik in Tierpsychologie.  Dies muß ich (ebenso wie einige musikpsychologische Gedanken) methodisch sowie selbstverständlich sachlich als falsch bezeichnen, will auch nicht verhehlen, daß ich deshalb mit Weininger einige mündliche Auseinandersetzungen gehabt habe.  Die Idee der universellen künstlerischen Symbolik wird gewiß noch einmal für die Ästhetik, wenn auch kaum für die Ontologie fruchtbar werden.

    Man hat natürlich die Metaphysik Weiningers vielfach verspottet.  Denn Leute, denen nichts einfällt, haben nun einmal die Gewohnheit, andere, denen etwas einfällt, zur Rede zu stellen, daß ihnen gerade dies eingefallen ist und nichts anderes.

 

 

 

B.  DAS WESEN DES WEIBES UND SEIN SINN IM UNIVERSUM

 

    Was sich anfangs als die Absicht von „Geschlecht und Charakter“ zu enthüllen schien, die Psychologie der Geschlechter und ihre Beziehung zum Ganzen, ist immer mehr in den Hintergrund getreten.  Mit den Hilfsmitteln einer scharfen Analyse und einer ganz ungewöhnlichen introspektiven Psychologie wurden die tiefsten Probleme der Philosophie dargestellt und umgeformt.  Nun muß das Buch nochmals eine letzte Zusammenfassung alles dessen versuchen, was es über die Weiblichkeit zutage gefördert hat, und das Schwerste von allem – trotz den errungenen Erkenntnissen auch die Frauen unter die Postulate einer reinmenschlichen Ethik stellen.

    Bisher war den Frauen eine Reihe von Eigenschaften abgesprochen worden, die wir als die eigentlich menschlichen ansehen müssen.  Sie haben kein Verhältnis zu den Anforderungen, die Logik und Ethik an den Menschen stellen, sie sind keine Persönlichkeiten, keine Monaden und gehören ganz und gar der Materie an, der Zeitlichkeit, dem Nicht-Ewigen.  Was W nicht ist, das wissen wir.  Aber was ist W am Ende?  Aus allen Negationen wird noch keine Position.  „Es läßt sich absolut nichts anderes als positive allgemein - weibliche Eigenschaft prädizieren als die Kuppelei, das ist die Tätigkeit im Dienste der Idee des Koitus überhaupt.“ „Das allgemeinste und eigentlichste Wesen der Frau ist mit der Kuppelei, d. h. mit der Mission im Dienste der Idee körperlicher Gemeinschaft, vollständig und erschöpfend bezeichnet.“ „Es ist kein anderes als dieses Phänomen, weiches zum tiefsten, zum eigentlichsten Einblick in die Natur des Weibes zu führen vermag.“ Das Bedürfnis nach dem eigenen Geschlechtsverkehr „ist zwar das heftigste Bedürfnis der Frau, aber es ist nur ein Spezialfall ihres tiefsten, ihres einzigen vitalen Interesses, das nach dem Koitus überhaupt geht; des Wunsches, daß möglichst viel, von wem immer, wo immer, wann immer, koitiert werde.  Dieses allgemeinste Bedürfnis richtet sich entweder mehr auf den Akt selbst, oder mehr auf das Kind.“ „Wenn Weiblichkeit Kuppelei ist, so ist Weiblichkeit universale Sexualität.“ „Ihre eigene Sexualität bildet von diesem unbegrenzten Wollen nur einen begrenzten Teil.“ Die einzige scheinbare Ausnahme hiervon, die Hysterie, wurde schon früher wiedergegeben.  Weininger weist nach, daß jene Frauen, die als Beweise der weiblichen Sittlichkeit angeführt werden, stets Hysterikerinnen seien, „und gerade in der Befolgung der Sittlichkeit, in dem Gebaren nach dem Moralgesetze, als ob dieses Gesetz das Gesetz ihrer Persönlichkeit wäre und nicht vielmehr, ohne sie zu fragen, von ihnen kurzerhand Besitz ergriffen hätte, liegt die Verlogenheit, die Unsittlichkeit dieser Sittlichkeit.“

    Von den Werten des „höheren Lebens“ (S. 109f.), „von jenem höheren metaphysischen Sein ist das absolute Weib ausgeschlossen“.  „Das Weib hat kein Verhältnis zur Idee, es bejaht sie weder, noch verneint es sie; es ist weder moralisch noch antimoralisch, es hat, mathematisch gesprochen, kein Vorzeichen, es ist richtungslos, weder gut noch böse, weder Engel noch Teufel; nicht einmal egoistisch (darum konnte es für altruistisch gehalten werden), es ist amoralisch wie es alogisch ist.  Alles Sein aber ist moralisches und logisches Sein.  Die Frau also ist nicht. „Es ist hier das Sein im höheren Sinne des óvÄÉÂ óv, das der Frau abgesprochen wird.  Ich möchte als kleine Erläuterung dafür, wie sich alles Sein und alles wirkliche Interesse der Frauen auf die Sexualität bezieht, noch anführen, daß sie niemals begreifen, daß Moral noch andere als sexuelle Inhalte haben könne.  Für den Mann aber ist die sexuelle Moral nur ein geringer Teil der Moral, und je höher er sich erhebt, desto mehr treten ihre sexuellen Beziehungen in seinem Bewußtsein zurück.  Die Frauen aber kennen nur eine sexuelle Moral und betrachten es sogar als selbstverständlich, daß sich der Teil der Moral, der ihnen zugänglich ist, mit der Moral überhaupt decke.  Heute haben sich auch viele Männer diese Wert-Einschränkung einreden lassen.  Das Bedürfnis, alles Werten sexuell zu färben, habe ich oft in den Schriften weiblicher Autoren gefunden; es tritt manchmal sehr maskiert auf[42]) z. B. „Man sieht ein, daß die Natur dem Mann in der Frau einen Zügel seiner brutalen Begierden gab, ihn die höheren, feineren und zarteren Tugenden dadurch lehren wollte, daß sie ein höheres, feineres, zarteres Geschöpf fast wehrlos in seine gröbere Hand legte.“ Dieses Zitat illustriert auch, wie sich die Frau immer als Objekt des Mannes, als für den Mann geschaffen auffaßt, nie als Subjekt, worauf ich gleich zu sprechen komme.

    Eine rein immanente Betrachtung des Gegenstandes würde mit der Feststellung, daß Weiblichkeit mit Kuppelei (als psychologischem Tatbestand), mit allgemeiner Sexualität (als hieraus erfließender Theorie) identisch ist, ihr Ende erreicht haben müssen.  Aber Weininger sucht noch nach einem Abschluß für die Metaphysik.  „Isoliert ist der Sinn von Mann und Weib nicht, zu erforschen; sie können in ihrer Bedeutung nur aneinander erkannt und gegeneinander bestimmt werden.  In ihrem Verhältnis zueinander muß der Schlüssel für das Wesen beider zu finden sein.  Bei dem Versuche, die Natur der Erotik zu ergründen, ist bereits kurz auf ihn angespielt worden.  Es ist das Verhältnis von Mann und Weib kein anderes als das von Subjekt und Objekt. Das Weib sucht seine Vollendung als Objekt.  Es ist die Sache des Mannes oder die Sache des Kindes, und will, trotz aller Bemäntelung, nicht anders genommen werden denn wie eine Sache.“ Im Anschluß an Platons Lehre vom Seienden und vom Nicht-Seienden, an des Aristoteles Metaphysik von der passiven dumpfen Materie und der aktiven Form erkennt Weininger im Weibe die formlose Materie.  „Der Mann ist Form, das Weib Materie.  Ist das richtig, so muß es auch in dem Verhältnis ihrer psychischen Einzelerlebnisse zueinander einen Ausdruck finden.  Die längst festgestellte Gliederung der Inhalte des männlichen Seelenlebens gegenüber dem unartikulierten und chaotischen Vorstellen des Weibes verkündet nichts anderes als diesen nämlichen Gegensatz von Form und Materie.  Die Materie will geformt werden: darum verlangt das Weib vom Manne die Klärung seiner verworrenen Gedanken, die Deutung der Heniden.“[43]) „Daß das Weib nicht Monade ist und keine Grenzen hat, dadurch ist Kuppelei nur ermöglicht; zur Wirklichkeit wird sie, weil es die Idee des Nichts, der Materie repräsentiert, die unaufhörlich und in jeder Weise die Form zur Vermengung mit sich zu verfuhren trachtet.  Kuppelei ist das ewige Drängen des Nichts zum Etwas.“ „Der reine Mann ist das Ebenbild Gottes, des absoluten Etwas, das Weib, auch das Weib im Manne, ist das Symbol des Nichts.“ „Der Fluch, den wir auf dem Weibe lastend ahnten, ist der böse Wille des Mannes.“ „Der Sündenfall der Form ist eben jene Verunreinigung, die sie auf sich lädt, indem es sie treibt, an der Materie sich zu betätigen.  Als der Mann sexuell ward, da schuf er das Weib.  Daß das Weib da ist, heißt also nichts anderes, als daß vom Manne die Geschlechtlichkeit bejaht wurde.  Das Weib ist nur das Resultat dieser Bejahung, es ist die Sexualität selber.“ Kierkegaard hat über die Frauen ganz ähnlich gedacht wie Weininger, ohne sich jedoch sehr gründlich auf dieses Thema einzulassen.  Dem vorhergehenden entspricht sein Satz: „Mit der Sündhaftigkeit wurde die Sexualität gesetzt“ („Begriff der Angst“, S. 50).  Harald Höffding und andere haben ihn ob seiner unmodernen Ansichten gescholten.  Es ist aber überhaupt die Meinung aller derer gewesen, die das Christentum am tiefsten verstanden haben, und Weininger zitiert in der Anmerkung auf S. 606, 607 Aussprüche Christi bei Clemens Alexandrinus. –

    „Das Weib ist die Schuld des Mannes. Diese Schuld gut zu machen, dazu soll ihm die Liebe dienen.  Was der Mann durch die Schöpfung des Weibes, das ist durch die Bejahung der Geschlechtlichkeit, verbrochen hat und noch fortwährend verbracht, das bittet er dem Weibe ab als Erotiker.“[44]) „Ein jeder Mann schafft, indem er sich inkarniert, für sich auch ein Weib, denn ein jeder ist auch sexuell.  Das Weib selbst aber ist nicht durch eigene, sondern durch fremde Schuld; und alles, was dem Weibe vorgeworfen werden kann, ist Schuld des Mannes. Die Liebe soll die Schuld überdecken, statt sie zu überwinden; sie erhebt das Weib, statt es aufzuheben.

  Dieses ist Metaphysik.  Aber sie enthält in Begriffen und Bildern, was die tiefsten Männer über das Weib gefühlt und unsystematisch gesagt haben. –

 

    So wurde der Typus des absoluten Weibes langsam aus all den Charakterzügen zusammengesetzt, die den konkreten weiblichen Individuen innewohnen.  Das letzte, was die psychologische Analyse feststellen konnte, war die universale Sexualität als Grundposition alles Weiblichen, die sich, metaphysisch gesprochen, mit dem Aristotelischen Begriff der Materie gleichsetzen ließ.  Aber die Weltanschauung Weiningers ist von „jener Idee der Menschheit geleitet, die über der Philosophie von Immanuel Kant schwebt“.  Das Ideal der Reinheit und Keuschheit, das manche bei Frauen zu gewahren glauben, ist ein männlicher Wert, „die Projektion des dem Manne immanenten Ideales fleckenloser Reinheit auf den Gegenstand seiner Liebe“.  Die Frauen verachten diesen Zustand, sie ehren das Gegenteil, „sie schätzen auch die eigene Jungfrauenschaft als Zustand äußerst gering, und nur als eine sehr gesuchte Ware von höchstem Anwert bei den Männern hoch.  Darum blicken sie zu jeder Verheirateten wie zu einem höheren Wesen empor“.  „Das Weib will unkeusch sein können, und es will Sinnlichkeit auch vom Manne, nicht Tugend.“ „Die letzte Gegnerin der Frauen-Emanzipation ist die Frau.“

    Weininger führt nun aus, warum der Geschlechtsverkehr in konsequenter Anwendung der Kantischen Prinzipien unmoralisch sei: „weil es keinen Mann gibt, der das Weib in solchem Augenblicke nicht als Mittel zum Zweck gebrauchte, den Wert der Menschheit in seiner wie in ihrer Person, in diesem Momente nicht der Lust hintansetzte.“ Und einen Menschen nur als Mittel für einen fremden Zweck behandeln, nicht als Zweck an sich selbst, ist nach der strengen Formel Kants wesentlich unsittlich.  „In der Frau ist noch ein ohnmächtiges Gefühl des Nicht-Anderskönnen, als eine letzte, wenn auch noch so kümmerliche Spur der intelligiblen Freiheit: wohl deshalb, weil es kein absolutes Weib gibt.  Die Frauen sind Menschen und müssen als solche behandelt werden, auch wenn sie selbst das nie wollen würden.  Frau und Mann haben gleiche Rechte.“ Die Unmöglichkeit, daß sich in den Frauen der Wirklichkeit der Keim des Nicht-Weiblichen, des Männlichen, ihr Anteil an M, je entfalte, darf nicht theoretisch behauptet werden.  „Dem Weibe wird von uns zugerechnet; und hierin liegt die Forderung, daß es anders werde.  Und wenn alle Weiblichkeit Unsittlichkeit ist, so muß das Weib aufhören, Weib zu sein, und Mann werden.“ , Die Abneigung gegen das männliche Weib hat der Mann in sich zu überwinden.“

    Mancher ist bis hierher mit Weininger gegangen und hat vielleicht darauf gewartet, wie schließlich die Harems-Theorie, „die ungeheure Vernunft Asiens“, herausspringen werde, die der Individualist Nietzsche, aus der Rolle fallend, fordert.  Die müssen sich allerdings enttäuscht abwenden, und murren wohl etwas von Prinzipienreiterei.  Aber einer folgerichtigen Denkweise, der echt philosophischen Gabe Weiningers, war hier nur eine Lösung möglich: Mag die Frau selbst um die Peitsche betteln und sich immer darbieten; die ethische Forderung will, daß sie nach der Idee der Menschheit, nicht nach dem Behagen der Menschen behandelt werde.  „Aber nicht Bejahung und nicht Verleugnung, sondern Verneinung, Überwindung der Weiblichkeit ist das, worauf es ankommt.  Würde z. B. die Frau wirklich die Keuschheit des Mannes wollen, so hätte sie freilich hiermit das Weib überwunden. . . . Aber dies ists eben: an die Echtheit solcher Forderungen vermag man nicht zu glauben, wenn sie auch hier und da wirklich erhoben werden.“ „Man möge bedenken: daß der Mann das ethische Problem für seine Person nicht lösen kann, wenn er in der Frau die Idee der Menschheit immer wieder negiert, indem er sie als Genußmittel benützt.“ „Die Frau muß dem Geschlechtsakt innerlich und wahrhaft aus freien Stücken entsagen.  Das bedeutet nun allerdings, das Weib muß als solches untergehen, und es ist keine Möglichkeit für eine Aufrichtung des Reiches Gottes auf Erden, ehe dies nicht geschehen ist.  Darum sind Pythagoras, Platon, das Christentum (im Gegensatze zum Judentum), Tertullian, Swift, Wagner, lbsen für die Befreiung, für Erlösung des Weibes eingetreten, nicht für die Emanzipation des Weibes vom Manne, sondern für die Emanzipation des Weibes vom Weibe.“ „Wagner, der größte Mensch seit Christus, hat auch dies am innerlichsten verstanden: bevor das Weib nicht aufhört, für den Mann als Weib zu existieren, kann es selbst nicht aufhören, Weib zu sein; Kundry kann nur von Parsifal, vom sündelosen, unbefleckten Manne aus Klingsors Bann wirklich befreit werden.  So deckt sich diese psychologische mit der philosophischen Deduktion, wie sie hier mit Wagners Parsifal, der tiefsten Dichtung der Weltliteratur, in völliger Übereinstimmung sich weiß.“[45]) „Hiermit erst, aus dem höchsten Gesichtspunkte des Frauen- als des Menschheitsproblemes, ist die Forderung der Enthaltsamkeit für beide Geschlechter gänzlich begründet.“ In der Befürchtung, daß dann die menschliche Gattung aussterben könne, "liegt nicht allein äußerster Unglaube an die individuelle Unsterblichkeit und ein ewiges Leben der sittlichen Individualität, sie ist nicht nur verzweifelt irreligiös: man beweist mit ihr zugleich seinen Kleinmut, seine Unfähigkeit, außer der Herde zu leben.“ Wer so denkt, fürchtet weniger den Tod, als die Einsamkeit. „Die Verneinung der Sexualität tötet bloß den körperlichen Menschen, und ihn nur, um dem geistigen erst das volle Dasein zu geben.“ –

    Nicht nur Wagner im Parsifal, auch Ibsen in „Wenn wir Toten erwachen“ haben wesentlich dieselbe ethische Lösung des Menschheitsproblems gegeben wie Weininger.  Die Analogie zu Ibsens Epilog ist weitgehend.  Der Mann hat dem Weib Seele geschenkt um seiner selbst willen, er liebt es, weil er sich in ihm wiederfindet.  Der Bildhauer Rubek hat das Eigenleben Irenes vernichtet, um ihr seine Seele einzuhauchen, sich an ihr zu seinem Werk entflammen zu können; da das Kunstwerk gelungen ist, kehrt er sich von ihr ab, und tötet so die Seele, die er geweckt, und seine eigene Seele.  Irene hat ihren Existenzgrund in der Welt verloren (sie wird irrsinnig), auf ihm aber lastet der Fluch der Sünde: er ist geistig tot, kann nichts mehr schaffen als grinsende Fratzen.  Aber die Toten wollen erwachen: der Mann gelangt zum vollen Bewußtsein seiner Schuld und zur Reue über alle Erotik, da er sein entseeltes Opfer wiederfindet.  Aus der Vernichtung der Leiber entsteht das neue Leben in der Idee der Menschheit[46]). lbsen glaubt ebenso wie Weininger, daß die ethische Lösung im Erdenleben nicht möglich sei, beide wahren sich aber den transszendenten Optimismus, der allerdings gleichbedeutend ist mit immanentem Pessimismus.  Es zeigt sich wieder die Unvereinbarkeit von Ethik und Leben.

    Von denselben Voraussetzungen über die Frau (und die Erotik) geht Wagner aus, glaubt aber nicht an die Möglichkeit ihrer ethischen Läuterung.  Da sie der Mann nicht mehr begehrt, muß Kundry sterben, sie kann das Licht des ewigen Lebens, des Grales, nicht ertragen.  Diese Lösung ist die tiefere: denn sie bejaht die Möglichkeit der „Begründung eines Reiches Gottes auf Erden“ (Kant), der reinen Gral-Ritterschaft, und entgeht der raffinierten Erotik des Liebestodes.  Man scheint es übrigens gar nicht zu wissen, daß Wagner schon im Lohengrin, die Parsifal-Lösung vorweggenommen hat. (Nur eine sehr schöne Bemerkung hierüber bei Leop.  Ziegler, „Zur Metaphysik des Tragischen“, Leipzig 1902, ist mir bekannt.) Alles, was in Lohengrins Brust mit dem ewigen Leben, dem Gral, zusammenhängt, muß für Elsa verborgen bleiben.  Wird aber das Geheimnis des höheren Lebens durch Unglauben und unkeusche Neugierde entweiht, so muß Lohengrin das niedere Leben verlassen und Elsa stirbt. Wagnern selbst ist dieser Sinn damals zweifellos noch nicht völlig bewußt gewesen, sicherlich aber im Parsifal.

 

 

 

V.  SCHLUSS

 

    Ich habe mich aufrichtig bemüht, in der Beurteilung der Gedanken Weiningers nicht den Autor vor Augen zu haben, der mir lieb gewesen ist, und dessen Tod eine Lücke in meinem Leben gelassen hat, sondern nur das anzuerkennen, was meinem objektiven Urteil gelungen und wertvoll erscheint.  Da wir ein Stück in unserem geistigen Leben gemeinsam gegangen sind, da ich mehrfach schon im persönlichen Verkehr von seinen Überzeugungen beeinflußt war, konnte ich sehr vielem aus vollem Herzen zustimmen und möchte manches als meine eigene Anschauung der Dinge vertreten.  Sollte vielleicht mein Bestreben, den Toten vor Übelwollen und Unverständnis in Schutz zu nehmen, auf exponierten und viel angegriffenen Punkten dem Gleichmut des kritischen Wagmeisters einige Male obgesiegt haben, so wird man dies verzeihen.

    Es liegt mir ferne, die Schwächen Weiningers zu übersehen.  Unter den Aphorismen finden sich Sätze, die ganz nichtssagend sind, und sogar Trivialitäten laufen neben abgründlichen Gedanken mit unter.  Einige Aphorismen dürften nichts sein als kurze Zettelnotizen, die auf der mehrmonatlichen italienischen Reise in irgendeinem Bahnhofraum, im Waggon (wie der Satz auf S. 180 unten; „Letzte Dinge“) etc. skizziert wurden, um später in Ruhe den ganzen zugehörigen Gedanken assoziativ zurückzurufen; zweifellos nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.  Einiges ist mir wie anderen ganz unverständlich; aber aus solchen Sätzchen (die in verschwindender Minderzahl neben vollwichtigen stehen) auf die geistige Gestörtheit des Autors zu schließen, ist sicherlich falsch.  Die „Fragmente“ des Novalis in vielen Partien, Swedenborg, Görres, Nietzsche, und beinahe alle Poeten weisen ganz unverständliche, vielleicht nur dem Verfasser im Moment der Niederschrift klare Sätze auf.  Man vergesse auch nicht, daß öfters ein Gedanke zwar deutlich erfaßt, aber nicht gleich adäquat ausgesprochen werden kann, und so ist mancher sinnlos oder rätselhaft klingende Satz nur auf mangelhafte Stilisierung zurückzuführen. – (Ich muß es bedauern, daß im Jahre 1919 stenographische Notizen Weiningers herausgegeben worden sind, die zu den Einfällen der Aphorismen nichts eigentlich Neues dazubringen und gerade die unerquicklichsten Gedanken beständig wiederholen. – Dagegen sind die Briefe an Artur Gerber interessant genug. – „Taschenbuch und Briefe an einen Freund.“ Verlag E. P. Tal & Co., Wien.)

    Einige Trivialitäten erklären sich mir nur aus der verzweifelten Stimmung der letzten Lebenstage.  Daß das Rot der Hölle das Gegenteil vom Blau des Himmels sei, und daß schwarze Vögel nicht auf offenen lichten Plätzen zu finden wären, sind keine Verrücktheiten, sondern Flachheiten, die (aus dem Grundgedanken der Polarität geboren) die reiche Umgebung verunzieren.

    Von dem Inhalt des nachgelassenen Werkes (das im ganzen einen tragischen Eindruck auf mich macht, in mancher Beziehung reifer ist als „Geschlecht und Charakter“) stammen die Aufsätze über Peer Gynt, über die Einsinnigkeit der Zeit und über die Kultur aus der Periode vor dem Erscheinen von „Geschlecht und Charakter“ (1902 und Anfang 1903).  Einiges Zusammenhangloses, die Aphorismen zur Charakterologie, die Metaphysik sind in der letzten Lebenszeit geschrieben, und zwar nicht in gesammelter produktiver Stimmung, sondern nur aus dem Gedächtnis als Keime ausgerissen, um den Tod zu erleichtern.  Man merkt die Hast, und vieles wird nur klar, wem Weiningers Gedanken ganz vertraut sind; daß überall viel Wertvolles verstreut ist, braucht nicht gesagt zu werden.

    Ich will es nunmehr versuchen, die Motive zu rekonstruieren, die Weininger zum Selbstmord getrieben haben.  Die Richtigkeit der Darstellung seines Seelenlebens kann ich nicht Schritt für Schritt belegen; sie stützt sich auf meine genaue Kenntnis seines Wesens, seine eigenen Mitteilungen und auf die Folgerungen, die ich aus seiner letzten Aufzeichnung ziehen darf.  Wer Kierkegaards Leben und Werke kennt, wird meine Darstellung leichter verstehen; die meisten werden wohl den Kopf schütteln.

    Ich habe Weininger kennengelernt, da er am Wendepunkte seines Lebens stand.  Bis dahin war ihm kein Relativismus extrem genug, er fragte nicht: Ist die Kantische Philosophie richtig?, sondern: Warum hat der Mann, der so ausgesehen hat, solche Gedanken entwickelt?  Wie lassen sich die Vorstellungselemente aus seiner Körperlichkeit und aus seinem Lebenslauf erklären?  Er war Anhänger der relativistischesten aller Weltanschauungen, des Empiriokritizismus von Avenarius, dem das Welträtsel ein Problem der Individualpsychologie dieses oder jenes Mannes, Gott einen Pubertätsdusel bedeuten mag.  Dann kam ein Augenblick, wo Weininger von einem entsetzlichen Schwindelgefühl erfaßt wurde.  Alles Feste sank vor seinem Auge, und wo er hintappte, fand er nichts als Relationen: Empfindungsbündel und subjektive Aussagen, nichts Objektives, nichts Wahres.  Wäre er ein Durchschnittsrelativist gewesen oder ein Stimmungsmensch ohne tiefere Innerlichkeit wie so viele, so hätte ihn diese Furcht vor dem Nichts des Relativismus nimmer befallen.  Aber jener Akt, von dem ich schon allgemeiner gesprochen habe, der die Wahrheit setzen will, und aus der Unwahrheit alles nur Relativen heraus einen Wert fordert, hat sich in ihm radikal vollzogen.  Zu jener Zeit, da er um den absoluten Wert rang, entschwand das Gewirre des Relativen seinem Blick, und er fühlte sich vor diesem Nichts gerettet.  Damals war es, daß er sich das Absolute, die letzte Position beweisen wollte, er glaubte an die transszendente Existenz der Seele und an ihre Unsterblichkeit.

    Die Gefahr des Relativismus (der eben nur dem tiefen Menschen eine Gefahr ist) war für ihn nicht verschwunden, sie war sogar jetzt erst aktuell geworden.  Was früher ohne allen Anspruch auf objektive Wahrheit wertlos nebeneinandergestanden hatte, entpuppte sich ihm jetzt in seiner Wertlosigkeit als der Bankerott der Objektivität, das Nicht-Seiende, Äò ¼® ðv.  So entsteht, nebenbei gesagt, psychologisch wohl meist echter Dualismus. (Im ersten Band von Hebbels Tagebüchern ist viel von diesem furchterweckenden Chaos.) Das All, das vor der Konzeption des objektiven Wertes nur ein physikalisches System war, wurde nun zum ethischen Kosmos, in dem die Idee des Göttlichen (des Seienden, Wahren und deshalb Guten) allen Bestand und alles Leben, das Dämonische (das Nichts, das Zufällige, das Böse) alle Vernichtung und allen Tod barg.  Erst als ein Christus in die Welt gekommen war, gab es auch einen Satan, denn nur das Göttliche wird vom Teuflischen versucht, nur das wahrhaft Seiende fürchtet den Abgrund des Nichts. (Von hier aus ist Kierkegaards Psychologie der Furcht zu verstehen.)

    Bei Hebbel ist dieser Dualismus folgendermaßen persönlich gestaltet:

 

                Satan.

      Schau hin, die Sterne wanken!
      Mein Wollen ist das Deine schon!
      Nun stürz' ich in Gedanken
      Ihn selbst von seinem Weltenthron.

 

                Christus.

      Schau hin, die Sterne funkeln,
      Sie drehen sich im alten Tanz.
      Du konntest sie verdunkeln,
      Ich gebe ihnen neuen Glanz.

 

    Dieses Wanken der Sterne – das ist das Chaos Weiningers.

    Es wird jetzt vielleicht einleuchten, wie Weiningers „Mönchshaß“ gegen das Weib entstanden ist.  Noch in seiner ersten Periode hatte sein phänomenaler Scharfblick die Analyse der Frauen vollendet, aber ohne zu werten.  Er sah und beschrieb.  Nun empfand er die Gefahr dieser Erkenntnis.  Was früher ein Kapitel der empirischen Psychologie gewesen, wurde nun böses Prinzip, „lockender Abgrund zum Nichts“; daß er früher nur Relatives hatte gelten lassen, daß er den Abgrund gekannt und nicht erkannt hatte, lastete jetzt schwer als Sünde auf ihm.  Und die Möglichkeit, daß sich wieder das Chaos, das Leere zeigen werde, flößte ihm Furcht ein.

    Ich vermute, daß er in einer solchen Angstperiode den ersten Selbstmordplan gefaßt hat, dessen Ausführung verhindert wurde.  Weininger fühlte sich zu keinem lebenden Schriftsteller so hingezogen wie zu Knut Hamsun. Er glaubte, viel Ähnlichkeit mit ihm zu haben, und lernte vermutlich deshalb norwegisch, um Hamsuns Romane im Urtext lesen zu können.  Er hat es mir zwar nicht direkt gesagt, doch glaube ich nicht zu irren, wenn ich seine Reise nach Norwegen dem Wunsch zuschreibe, Hamsuns Heimat kennen zu lernen; er ist von Christiania nach Bergen allein zu Fuß gewandert.  Eines Tages (vielleicht dreiviertel Jahre vor seinem Tod) kam Weininger ziemlich verstört und erzählte im Freundeskreise, Knut Hamsun hätte sich erschossen.  Die Nachricht bestätigte sich nicht; von dem seltsamen Einfall aber und der entsetzten Miene, mit der er vorgebracht wurde, waren alle betroffen.  Auf spätere Fragen, wie er auf diesen Gedanken gekommen wäre, gab Weininger keine rechte Antwort.  Ich glaube jetzt, daß der Entschluß zum Selbstmord damals schon festgestanden hat, und daß sich das Sinnen hierüber mit dem Gedanken an Knut Hamsun, dem er sich sehr verwandt fühlte, auf irgendeine unerklärliche Weise verschwistert hatte.

    Der Kampf der beiden Pole in ihm nahm an Intensität stetig zu, er rang um das Gute (die Theologen nennen das: das Gebet um Glauben) und blickte doch immer wieder zum Chaos nieder, das ihn versuchte.  In solchen Stunden fühlte er sich als „Verbrecher“, als einer, der allem Werten, allem Anspruch auf Freiheit durch einen unerklärlichen Akt entsagt hat, dem Nichts anheimfällt.  In dieser Verzweiflung schrieb er die psychologischen Betrachtungen über den verbrecherischen Menschen (L. D. S. 115 bis 121 u. a. O.), die das tiefste sind, was über das Thema gesagt worden ist.  Verbrecher höchsten Stiles waren ihm Kant (der in der Gefahr des ethischen Chaos die Konzeption des Radikal-Bösen gefaßt hat: „Der Mensch ist von Natur böse“), Beethoven (besonders in den rasenden Scherzi und Allegri).  In des letzteren Sterbehaus hat sich Weininger auch in seiner Angst geflüchtet, wohl in einer Art Aberglauben, wie um Verwandtem (seiner Anschauung vom Verbrecher, nicht seinem Talente nach) nahe zu sein, da er sterben wollte.

    Ich stehe nun schon bei seinem Selbstmorde.  Mit immer wachsendem Entsetzen hat Weininger gesehen, daß er sich seinen Glauben, seine Liebe zur Ewigkeit nicht retten konnte.  Das Chaos, das er als spezifisch Ethisches, als Lüge und Verbrechen, als Willen zur Vernichtung alles Seienden (d. h. alles Wertvollen) empfand, zog ihn übermächtig an sich.  Er hatte sich immer mehr gewöhnt, alle Dinge ethisch zu werten.  Seine naturwissenschaftliche Vergangenheit, seinen neuerlichen Unglauben, fühlte er als Schuld, und seine Furcht nahm schnell zu.  Da er im Juli 1903 nach Italien ging, war er schon gewiß, sich nur noch durch den heroischen Akt der Selbstentleibung aus dem Verfall aller Werte retten zu können, um nicht „definitiv böse zu werden“.  Weininger wurde vermutlich von Verfolgungsvorstellungen heimgesucht.  Einer seiner letzten Aphorismen heißt auch: „Michelangelos Schuld war Pessimismus (Verfolgungswahn).“ Der Name Michelangelos steht hier nur durch den Zufall der italienischen Reise; ebenso gut hätte manch anderer gepaßt.  Die Strebungen, die er als böse, als Sünde in sich empfand, gewannen die Oberhand, und da er zu ihrer Besiegung nicht mehr die Kraft fühlte, rettete er sich durch die Vernichtung des Substrates für alles Böse, durch die Zerstörung des Leibes. –

    Ich maße mir nicht an, so den Selbstmord Weiningers hinreichend erklärt zu haben.  Ein rätselhafter Rest bleibt für alle Fälle übrig.  Und ausdrücklich bemerke ich, daß ich mit dem Vorhergehenden nur das zu schildern versuchte, was in Weiningers Bewußtsein vorgegangen sein dürfte, nicht aber irgendetwas aussagen wollte über die metaphysische Richtigkeit seiner Überzeugung.  Ich glaube, daß sich meine psychologische Beschreibung nicht in wesentlichen Punkten wird verbessern lassen.

    Was es mit dem verbrecherischen Willen auf sich haben mag, ist nicht wohl objektiv festzustellen.  Es versteht sich ja von selbst, daß Weininger niemals etwas getan hätte, was mit dem Strafgesetz in Widerspruch stehen könnte.  Das ist für Menschen seiner Art, deren Leben sich im Denken und geistigen Schaffen abrollt, und die zur konkreten Wirklichkeit niemals sehr starke Willensbeziehungen haben, einleuchtend.  Ein Denker erbricht keine Kassen und erschießt keine Menschen: aber er kann in sich den bösen Willen finden, der das Verbrechen in der Welt bejaht, der nicht dessen Vernichtung will, sondern lächelt, wenn es geschieht.  Dieser Trieb ist in Weininger vielleicht stark hervorgetreten, und er empfand ihn natürlich als Schuld.  Die wissenschaftliche Betrachtungsweise, die seine erste Lebensperiode erfüllt hatte, war nach einem kurzen, ästhetischen Zwischenspiel durch die ausschließlich ethische Betrachtungsweise ersetzt worden, wie sie wohl einem sehr religiösen Menschen selbstverständlich sein mag.  Wäre ich nicht ein böser Mensch gewesen, hat er dann vielleicht gedacht, so hätte ich nicht in der Seele des Menschen nach mechanischen Gesetzen geforscht.  Und so hat er vielleicht den Eroberer der Wissenschaft, „der Gott ersetzen will durch die Erkenntnis“, in sich lebendig gespürt.

    Es wird nicht viele Menschen gegeben haben, die sich so schwer für ihren bösen Willen oder das, was sie dafür gehalten haben, bestraften.  „Der anständige Mensch geht selbst in den Tod, wenn er fühlt, daß er endgültig böse wird; der gemeine Mensch muß zum Tode durch ein richterliches Urteil gezwungen werden.  Das Gefühl seiner Immoralität ist dem Anständigen gleich einem Todesurteil“ („Letzte Dinge“, S. 57).  Auch wenn die natürliche Lebensfreude gering ist, die „schöne freundliche Gewohnheit des Daseins und Wirkens“ (Egmont), bleibt doch der Trieb zu leben, zu atmen, und die Furcht vor dem Tode ein zu starkes Motiv.  Man hat die Überwindung dieser natürlichen Furcht dadurch zu erklären gesucht, daß man Weiningers Glauben an die Unsterblichkeit der Einzelseele ins Spiel stellte.  Ich bin überzeugt, daß es keinen neueren Menschen gibt, bei dem dieser Glaube so sehr psychische Realität werden kann, um die Todesfurcht zu überwinden.  Der Selbstmörder will wohl meistens das Ende und nicht die Unsterblichkeit.  Ich bin auch ziemlich sicher, daß Weininger in seinen letzten Lebenstagen nicht mehr an die Unsterblichkeit der Einzelseele glauben konnte, sondern nur an die Ewigkeit der Idee des Guten.  Am Tage seines Todes machte er mir gegenüber eine Bemerkung, die darauf schließen läßt, und die ganz ähnlich lautete mit dem Aphorismus auf S. 175.  „Es gibt kein Ich, es gibt keine Seele; von höchster, vollkommener Realität ist allein das Gute, welches alle Einzelinhalte in sich schließt.“ Gleich darauf folgt ein Aphorismus über den Selbstmord; in seinem Bewußtsein werden wohl auch beide nebeneinander gestanden haben.

    Ich weiß wohl, daß manche Leute alles dieses „hysterisch“ zu nennen gesonnen sind.  Sei's drum.

    Vielleicht wäre Weininger nicht aus dem Leben geschieden, wenn er wie Shakespeare oder Hebbel eine hinreichende Möglichkeit besessen hätte, die verbrecherischen Instinkte zu paralysieren, indem er sie in einer tragischen Gestalt verkörperte.  Einem besseren Kenner Shakespeares überlasse ich es, nachzuforschen, ob in der Abfassung der einzelnen Tragödien nicht eine gewisse Periodizität festzustellen ist, nach deren Gesetz die einzelnen Elemente des allgemein Menschlichen, die in ihm geschlafen hatten, zutage traten.  Er wird die großen Verbrechercharaktere nicht hintereinander geschaffen haben, sondern in den Zeitpunkten, da die entsprechenden Triebe in ihm übermächtig wurden und nach einer Entladung verlangten.  In den ersten Partien von Hebbels Tagebüchern läßt sich das verzweifelte Suchen nach einem Tragödienstoff, nach einer Entspannung, verfolgen.  Dieser Mensch weiß mehr von den Teufeln – aber auch mehr von den Engeln als andere, konnte jemand mit Recht von ihm sagen.

    Wenn ich bekannte Männer zur Illustration heranziehe, so ist damit selbstverständlich nicht gemeint, daß Weininger irgendwie der Begabung nach mit dem und jenem verglichen werden sollte; dies steht ganz dahin: nur einzelne Charakterzüge konnten vielleicht etwas deutlicher hervortreten.  Mit Shakespeare hat Weininger nicht die entfernteste charakterelle Ähnlichkeit; Weininger war Ethiker und wertete jeden Menschen und jede psychische Regung von früh bis spät.  Shakespeare wertet überhaupt nicht, sondern zeigt nur die Wirklichkeit.  Zwischen beiden in der Mitte steht Hebbel, der Gestalten verkörpert, aber es nicht unterläßt, sie zu werten.  Das scharfe Auge für den Menschen hatte Weininger mit den großen Tragikern gemeinsam, man könnte sagen, die intellektuelle Grundanlage, die eben dem Psychologen und dem Dramatiker identisch ist.  Der Dramatiker gibt dann die Menschen in konkreter Gestaltung wieder, während sie der Psychologe abstrakt beschreibt. (Weininger hat übrigens sehr darunter gelitten, daß ihm die eigentliche künstlerische Gabe versagt war.) Das Schildern ohne zu werten war ihm zur großen Gefahr geworden, wie ich gezeigt habe, und darum mußte ihn Shakespeare, der einzige vollendete Vertreter dieser Richtung, chaotisch anmuten (vgl. die Bemerkung Letzte Dinge“, S. XXIII).[47])

    Wäre Weininger ein sehr guter Mensch gewesen, so wäre er nie zu einer so großartigen Ethik mit ihrer dämonischen Furcht vor dem Bösen gekommen, einer Ethik, wie sie vielleicht Kierkegaard und Görres empfunden haben, die beide viel Verbrecherisches in sich hatten, und Schelling (eine Zeitlang Weiningers Ideal), der von einigen als der leibhaftige Böse angesehen wurde.  Nur die größte Spannung zwischen dem Gott und dem Dämon im Menschen kann solch ein System erzeugen, das für allen Dualismus typisch ist.  Von diesem Standpunkt aus durfte Weininger sagen, gute Menschen hätten eine flache Ethik. (Menschen mit viel Bösem haben entweder nur ein negatives Verhältnis zur Ethik, sie fürchten sich vor ihr und schließen die Augen, oder sie fassen sie an der Wurzel an.)

    Auf die große Ähnlichkeit Weiningers mit Sören Kierkegaard, die mir weiter zu gehen scheint als die zu irgend jemand sonst, habe ich wiederholt hingewiesen.  Derselbe Grundzug der Individual-Ethik, dasselbe Ringen zwischen Göttlichem und Dämonischem (welch letzterer Ausdruck übrigens bei Kierkegaard eine etwas andere Bedeutung hat), dieselbe ruhelose Spannung, dieselbe Freude am Paradoxen, Kant selbst hat den ethischen Dualismus bis in die letzten Konsequenzen durchdenken und doch ertragen können, Schwächere gehen daran zugrunde, sobald sich ihnen die sittliche Forderung in solcher Ganzheit entgegenstellt, wie man es an Kierkegaard und an Weininger sieht.  Eine ungeheure Furcht lastet auf dem Werke des genialen Dänen (dessen Gefahr übrigens stark beim Ästhetentum lag; vgl.  „Tagebuch des Verführers“), und ein riesiger Wille zum Absoluten, zu Gott, der dem großen Ironiker „das absolute Paradox“ heißen durfte.  Bei beiden ist gegen das Ende ihres kurzen Daseins[48]) das ethische Bewußtsein immer mehr gewachsen und hat alles andere, zuletzt das eigene Leben, verschlungen.  Auch für Kierkegaard heißen die Polaritäten das Etwas und das Nichts, und er sagt: „Die Größe eines Menschen hängt einzig und allein von der Energie des Gottesverhältnisses in ihm selbst ab.“ Selbstverständlich dürfen auch die starken Unterschiede zwischen Kierkegaard und Weininger nicht übersehen werden. (Ich glaube, sie hätten sich beide kaum als verwandt anerkannt.) Kierkegaard ist eigentlich immer auf dem Boden des Protestantismus gestanden, wenn er auch mit dessen Vertretern im Kampfe gelegen ist und noch beim Sterben den Beistand eines Geistlichen abgelehnt hat.  Weininger hatte ein sehr großes Bedürfnis nach Naturerkenntnis und war durchaus Philosoph; die christlichen Grundwerte hat er wesentlich in ihrer von der idealistischen Philosophie begrifflich gestalteten Form übernommen.  Um Mißdeutungen vorzubeugen, bemerke ich, daß im ganzen betrachtet Weininger an Kierkegaard durchaus nicht hinanreicht.[49]) –

 

  Ich bemerke zum Schluß, daß mich das Gefühl persönlicher Pietät für Otto Weininger nicht veranlaßt hätte, aus eigenem Antrieb die vorliegende Schrift zu verfassen.  Was er für mich bedeutete und in welcher persönlichen Beleuchtung ich sein ganzes Leben vor mir sehe, war nicht meine Absicht, mitzuteilen.  Aber ich glaube sein Werk zu verstehen und bemühe mich, es objektiv einzuschätzen.  Wer die einheitliche Weltanschauung, die daraus spricht, erfaßt hat, wird nicht anstehen, ihre eigentümliche heroische Größe zu bewundern.  Man mag sich zu dem extremen Dualismus Weiningers verhalten wie immer, seine Wucht sollte man fühlen.  Wenn ich es aber versuchen wollte, den bleibenden Wert von Weiningers Schöpfung zu bestimmen – ohne jeden wie immer gearteten Anspruch auf Beifall, vielleicht nur als Resultat eigener Weltansicht – so nenne ich die Bücher Weiningers die gedankenreichsten, die auf theoretischem Gebiete seit dem Werke Schopenhauers geschrieben worden sind; die Tiefe aber, mit der die Probleme des Menschenlebens ihren Urheber ergriffen haben, ist nicht erreicht worden seit dem Tode Richard Wagners.

 

 

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I m   g l e i c h e n   V e r l a g e   e r s c h i e n e n  v o n

 

Emil Lucka:

 

GRENZEN DER SEELE

 

9. Auflage

 

Ich erinnere mich nicht, in den letzten Jahren ein wissenschaftliches Buch gefunden zu haben, das mich so gefesselt, so im Innersten gepackt hat wie Luckas Grenzen der Seele.  Hier spricht ein Psychologe zu uns, der zugleich ein feinsinniger Dichter ist, ein Gelehrter, der hinabgestiegen ist in die letzten Tielen dermenschlichen Seele.            Berliner   Lokal-Anzeiger.

 

 

 

DIE DREI STUFEN

DER EROTIK

 

15. Auflage

 

Die Fülle neuer Gedanken überwältigt.  Der Verfasser, der Philosoph, Dichter und Peycholog ist, hat mit diesem an neuen und grossen Gedanken so reichen Werk etwas geschaffen, das reformierend wirken muss.  Es wird dazu beitragen, Licht in eine Materie zu bringen, in der noch vieles im Dunklen liegt; es wird Gelehrten imponieren und Nichtgelehrten Bewunderung einflössen.          Hamburg.  Corresp.

 

 

 

DIE PHANTASIE

Eine psychologische Untersuchung

 

Lucka wandelt auch in diesem Buche seine eigenen Wege, die ihn fernhalten von den ausgetretenen Pfaden der gebräuchlichen Forschung.  Alles ist wohl überdacht, im Gedankenleben des Verfassers festbegründet  und nimmt den Leser durch die Folgerichtigkeit der Entwicklung gefangen.       Die Zeit.

 

 

 

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I m   V e r l a g e   v o n

 

Wilhelm Braumüller, Wien und Leipzig

s i n d   e r s c h i e n e n:

 

GESCHLECHT

UND CHARAKTER

 

Eine prinzipielle Untersuchung von

 

Dr. OTTO WEININGER

 

ZWEIUNDZWANZIGSTE AUFLAGE

 

39 Bogen.  Gr.-Oktav. Gebunden 60M

 

 

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Von demselben Verfasser:

 

ÜBER DIE LETZTEN

DINGE

 

Mit einem biographischen Vorwort von

 

Dr. MORIZ RAPPAPORT

 

SECHSTE UND SIEBENTE AUFLAGE

13 Bogen.  Gr.-Oktav. Gebunden 21 M

 

 

 

 



[1] Weininger liebte die Natur so sehr, daß er einmal mitten im Winter ein Gartenzimmer in Gersthof (einem westlichen Vorort Wiens) bezog, um dem Wald nahe zu sein.  Allerdings ist er nicht lange dort geblieben.

[2] „Präludien.“ 2. Aufl. 1903.

[3] Oder Spinoza: „Unter Realität und Vollkommenheit verstehe ich ein und dasselbe“ (Ethik, Teil 11, Defin. 6)

[4] Aus dem Gedächtnis, vielleicht nicht wortgetreu, zitiert.

[5] „Wenn man nur auf sich selbst aufmerksam sein will, so kann ein Beobachter an fünf Männern und fünf Frauen und zehn Kindern Material genug haben, um alle möglichen menschlichen Seelenzustände zu studieren“, sagt einer der tiefsten Psychologen des 19.  Jahrhunderts, Sören Kierkegaard.

[6] Ich zitiere nach der zweiten Auflage von „Geschlecht und Charakter“, mit der alle folgenden genau übereinstimmen.

[7]Obiger erkenntnistheoretischen Formulierung ist die psychologische, die Weininger einmal gibt, anzugliedern: „Seele ist das regulative Prinzip, das aller wahrhaft psychologischen, und nicht empfindungsanalytischen, Einzelforschung vorzuschweben und diese zu leiten hat.“ (S. 274.)

[8] Ich weiß es bestimmt, daß Weininger Kierkegaard nicht anders als dem Namen nach gekannt hat.  Er hätte sonst auch nimmer Ibsen „den größten und tiefsten Individualisten seit Kant“ nennen können („Über die letzten Dinge“, S. 14, Anm.).

[9] Ich bediene mich hier und im folgenden Abschnitt zum großen Teil Weiningers eigener Worte. - Ein unheimlicher Fall von einem Manne, der zum Weib wurde (den Weininger nicht gekannt zu haben scheint), ist in Krafft-Ebings „Psychopathia sexualis“ beschrieben.

[10] Ein Beispiel, ohne Tendenz, aufs Geratewohl:

     „Schönes, grünes, weiches Gras.

            Drin liege ich.

     Mitten unter Butterblumen!

            Über mir,

            warm,

            der Himmel;

     ein weites, zitterndes Weiß,

     das mir die Augen langsam, ganz langsam

                                      schließt.

     Wehende Luft ... ein zartes Summen“  etc.

[11]Hebbel, mit dem Weininger manche Berührungspunkte aufweist, läßt seine Judith, eine der wahrsten Frauengestalten der Weltliteratur, sagen: „Ein Weib ist ein Nichts; nur durch den Mann kann sie etwas werden; sie kann Mutter durch ihn werden.  Das Kind, das sie gebiert, ist der einzige Dank, den sie der Natur für ihr Dasein darbringen kann.“ (2. Akt.)

[12]Merkwürdigerweise hat Weiningers Werk bei einer Frau eine Art von Selbstprüfung veranlaßt, die in einen vernichtenden Zusammenbruch ausklingt.  Wohl kein Verstehen, aber eine Ahnung der Wahrheit durchzieht die Schrift, die natürlich nur anonym erscheinen durfte. („Das Weib vom Manne erschaffen.  Bekenntnisse einer Frau .“ Nach der 10.  Auflage aus dem Norwegischen.  Berlin 1904.)

[13] Der folgende Satz „denn was sonst noch Liebe genannt wird, gehört in das Reich der Säue“ ist einer von denen, wo Weininger einer guten Sache durch Übertreibungen geschadet hat.

[14] Weininger hat ihn in dem meisterhaften Aufsatz über lbsens Peer Gynt („Letzte Dinge“) in die Tiefe verfolgt.

[15] „Das Subjekt kommt nie zum Bewußtsein seiner Selbständigkeit: deswegen finden wir bei den Juden keinen Glauben an die Unsterblichkeit der Seele, denn das Subjekt ist nicht an und für sich seiend.  Wenn das Subjekt aber im Judentum wertlos ist, so ist dagegen die Familie selbständig, denn an die Familie ist der Dienst Jehovahs gebunden, und diese somit das Substanzielle.“ (Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte.  Berlin 1837, S. 203.)

[16] Ein guter Teil der Anfeindungen, die Weininger erfahren hat, ist auf dieses Kapitel zurückzuführen.

[17] Diese Hoffnung ist nicht in Erfüllung gegangen (1921).

[18] Vgl.  S. 455, 457, 458

[19] S. 324, 325 etc.

[20] Zu den Zeiten, da die Naturwissenschaften große Bedeutung besaßen, wurde stets die Idee der Nationalität hochgehalten.  Im Mittelalter gab es weder Naturwissenschaft noch Nationalitätsbewußtsein.  Mit der beginnenden Renaissance erwachen beide Strömungen und schwellen parallel an, in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts wird die Naturwissenschaft als Weltanschauung proklamiert, die Idee der Nationalität vor allen anderen geschätzt.  Der moderne Wotananbeter ahnt es gewiß nicht, daß ihn dieselbe Geisteswelle trägt, die den Naturentgötterer, den nächternen Hebel- und Schraubenmenschen erzeugt hat.  Beide hypostasieren die Ordnungen der Natur, während Humanität, Religion und Philosophie nach geistigen Zusammenhängen streben.  So muß die Zeit, die nichts anerkennen will als die Kausalketten der Materie, die Nationalität allen anderen menschlichen Einheiten überordnen, und die entwickelte Heilkunde pflegt die Wunden, die im wilden Daseinskampf der natürlichen Stammesverbände geschlagen werden.  Hierzu steht scheinbar in paradoxem Widerspruch, daß der naturwissenschaftliche Mensch meist humanistisch, der Historiker und Philologe sehr oft national gesinnt sind.

[21]„Die Analyse der Empfindungen etc.“ 3. Aufl., S. 234.

[22] Ich darf jetzt auf den Abschnitt „Stufen der Genialität“ in meinem Buche „Grenzen der Seele“ hinweisen (zur Ausgabe von 1921).

[23] Ich glaube, daß hier der Weg vorgezeichnet ist, über die natürliche (nicht katastrophal verkürzte) Lebensdauer eines Menschen etwas zu erfahren.  Man müßte den Gesetzen des Lebensrhythmus nachspüren.  Mancher geniale Mensch fühlt es sicherlich, daß er ein kurzes oder ein langes Leben vor sich hat.  Man denke an Mozart und an Wagner, die beide mit ihrem Leben fertig waren, als sie starben, der eine jung, der andere alt.

[24] Geschlecht und Charakter, S. 195, 253, 254; Letzte Dinge S. 56, 57, 115 ff., 164 etc.  Vgl.  Kierkegaard, „Der Begriff der Angst“, S. 119 ff. Über das Verhältnis des genialen Menschen zum Wert, weiter unten.

[25] „Kein Mensch mit bösem Gewissen kann das Schweigen aushalten" (Kierkegaard).  Das Schweigen in der Einsamkeit der Nacht ist das größte Symbol der sittlichen Autonomie. Sie ist der Erbfeind des Antimoralischen, der darum Schweigen, Einsamkeit und Nacht, aber auch die Mittagssonne nicht erträgt.

[26] Bei Ambrosius heißt es irgendwo: morte vivit.

[27] Über den psychologischen Zusammenhang von Logik und Ethik in der Tatsache des Gedächtnisses vgl.  S. 89 f. Der amerikanische Psychologe William James kommt einmal dieser Verknüpfung von Logik und Ethik im gesteigerten Bewußtsein nahe: "To sustain a representation, to think, is, in short, the only moral act" (The Principles of Psychology, II, p. 566). - Schopenhauers Lehre vom unbewußten Willen ist auf die ganz fehlerhafte Gleichsetzung von Willen und Trieb zurückzuführen.  Wille heißt bewußte Anstrengung, je höher das Bewußtsein, desto stärker der Wille, der darum mit Kants praktischer Vernunft identisch ist.  Die höchste Übereinstimmung von Kant und Schopenhauer (und aller anderen, idealistischen Systeme) ist ihre Auffassung vom Bewußtsein (Vernunft, Intellekt) als dem guten Prinzip, während ihr letzter Unterschied in der Deutung des Willens besteht.  Für Kant ist der reine Wille das Gute schlechthin und mit der Vernunft (als praktischer) identisch, für Schopenhauer ist der Wille immer das Schlechte, das blind gegen die Idee kämpft und dem Erlösungs-Postulat zuwiderläuft.  Das Ding an sich hat ihm da einen bösen Streich gespielt; dafür muß es sich jetzt von seinem eigenen Bedienten, dem Intellekt, malgré soi erlösen lassen.

[28] Man vergleiche hierzu die Ideen Weiningers in dem Aufsatze „Über die Einsinnigkeit der Zeit“ etc. („Letzte Dinge“, S. 93 bis 109).

[29] Über das Verhältnis des Verbrechers zum Wert vgl. S. 95 f. - Über das negative Verhältnis der Frauen zum Wert und über den hieraus folgenden Mangel eines echten Unsterblichkeitsbedürfnisses hat Hebbel ganz ähnlich gedacht wie Weininger.  Er schreibt: „Für das Weib gehört der beschränkteste, der engste Kreis.  Für sie gerinnt das Welt-All in einen Tropfen zusammen.  Sie ist die Wünschelrute, die dem Mann die Schätze der Erde anzeigt.  Sie allein könnte den Himmel entbehren, wenn's keinen gäbe, denn für sie allein ist er nur, Tradition, kein Weib hätte ihn erfunden.  Daß jede sich hineinsehnt, kommt daher, weil er erstlich einige Ähnlichkeit mit einem ausgesuchten Nachtisch hat, und dann, weil sie uns nicht nachstehen, weil sie sein wollen, wo wir sind.  Weh denen, die das Weib, diese Marketenderin des Augenblicks, zur Sonnenuhr machten, durch die die Ewigkeit ihre Stunden anzeigt.  Dies macht sie nicht so verächtlich, als es scheint.  Wir gehen nur so lange sicher, als die Sterne über uns sicher gehen. Wanken die, so fallen wir. Das Weib ahnt kein Ziel, aber es kennt aufs genaueste den Punkt, von dem man ausgehen muß, sie übersieht kein Wirtshaus, wo man eintreten und sich erfrischen kann“ (Tagebücher, I, S. 136).

[30] Einer, der seiner „Gefahr“ verfiel, war z. B. Nietzsche.  Weininger sagt über ihn: „Nicht ohne tiefen Grund war Nietzsche der ‚Gewissenlose des Geistes’, Problem geworden: ,der Gewissenlose des Geistes’, d. i. der ‚geistreiche’ Mensch, und der ‚geistreiche’ Mensch war die Gefahr Nietzsches und der Abgrund, der ihn schließlich hinabzog“ („Letzte Dinge“, S. 32).

[31] Beide Begriffe treten bei Weininger meistens zusammen auf.

[32] Zitiert nach Feuerbacli, „Das Wesen des Christentums“, 18. Kapitel.

[33]Derselbe Gedanke bei Kierkegaard („Leben und Walten der Liebe“, 1, S. 106 f.). Vgl. hierzu die treffende Ausführung J. Herzogs, dessen Grundmeinung ich sonst nicht zustimmen möchte („Abwehr von Sören Kierkegaards Angriff auf die Christenheit“ in der „Zeitschrift für Theologie und Kirche“, 8. Jahrgang, S. 313).  Der Satz Herzogs: „Kierkegaard legt den absoluten, den Ewigkeitsmaßstab, an alles an“ (S. 338), trifft genau auch für Weininger zu.

[34] Die zweite Auflage hat, offenbar infolge eines Druckfehlers, anstatt „niedere“ „höhere“ (S. 385).  In der ersten Auflage steht der ganze Absatz noch nicht.

[35] „Jeder bedeutende Mensch besitzt die Überzeugung von der Existenz eines Ich oder einer Seele.“

[36] Hermann Swobodas vielversprechende Periodenlehre liegt auf einem Stadium zu dieser Psychologie.  Aber die Unstetigkeit ist nur scheinbar, da die einzelnen seelischen Elemente zwar nicht assoziativ, wohl aber als stetige Funktionen der Zeit zueinander gehören.

[37] Hier ist für die Pädagogik die deduktive Entdeckung zu machen, daß ein systematisches „Lernen“, das auf der Erinnerungsfunktion beruht, erst nach dem Auftreten des psychischen Mittelpunktes, der die Vorstellungen gruppiert und festhält, möglich ist.

[38] Man vergleiche auch Oskar Ewald, „Gegenwart und Romantik“.  Berlin 1904.

[39] Ich habe hier ganz die Naturwissenschaften vor Augen gehabt (1921).

[40] Vgl.  „Geschlecht und Charakter“, S. 237.

[41] Dagegen ist sehr wahr, was Weininger über Interpreten Platons in der Anmerkung auf S. 578 sagt.

[42] An diesem Kriterium kann, man unfehlbar jedes männliche Pseudonym durchschauen.

[43] Vgl.  S. 48.

[44] Vgl. S. 75.

[45] Ich darf hier darauf hinweisen, daß ich den „Parsifal“ schon 1901 in diesem Sinne gedeutet habe, was Weininger hervorhebt (Anm.  S. 606). – Eine eingehende Analyse des „Parsifal“ habe ich in „Grenzen der Seele“ gegeben (Zusatz 1921).

[46] Zu: „Wenn wir Toten erwachen“ vergleiche man im Aufsatz über „Peer Gynt“, S. 42.

[47] In einigen Punkten , war Weininger zweifellos von Carlyle beeinflußt.

[48] Weininger ist genau 23½ Jahre alt geworden.

[49] Man hat Weininger auch mit Philipp Mainländer verglichen.  Die Ähnlichkeit ist aber rein äußerlich, und liegt ganz an der Oberfläche.  Beider Wesen zeigt keinerlei Berührungspunkte.

 

 

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